Der Roman Der Hafen von Toledo der italienischen Schriftstellerin Anna Maria Ortese erschien im Original bereits 1975 und liegt nun erstmals auf Deutsch vor. Es ist ein voluminöses, sprachmächtiges, traumwandlerisch-unzeitgemäßes und rätselhaftes Buch, das bei seinem Erscheinen breite Ablehnung bewirkte und sich kaum verkaufen ließ – was auch der Grund ist, warum es fast 50 Jahre unübersetzt geblieben ist. Die Autorin selbst hat es gleichwohl zeitlebens für ihr bedeutendstes Werk gehalten. Hinter dem Schauplatz Toledo verbirgt sich Orteses langjährige Heimatstadt Neapel, das Geschehen darf als poetische Übersetzung ihrer eigenen jugendlichen Selbstfindung in der Zeit des Mussolini-Italiens der 1930er und 40er Jahre gelesen werden. Das Zeitgeschehen meldet sich indes eher in … > Weiterlesen
Kategorie: Bücher
Die Frau in den Bäumen
Elisabeth Gräfin von Plessen ist eine Ausnahmeerscheinung in der deutschen Literatur – man könnte sagen, dass ihre adlige Herkunft (von der sie sich schon in den 1976 erschienenen Mitteilungen an den Adel verabschiedet hat) gleichwohl in einer gleichsam aristokratischen Behandlung der deutschen Sprache und einem kultivierten Denken über den Tellerrand hinweg fortlebt. Für ihrem neuen, in den 1970er Jahren angesiedelten Roman hat sich die promovierte Literaturwissenschaftlerin ein Sujet mit autobiographischen Zügen gewählt. Nicht viel anders als ihre literarische Heldin, die mit einem zwanzig Jahre älteren Rundfunkmitarbeiter verheiratete Ich-Erzählerin Anna, hat auch Plessen über dreißig Jahre mit einem deutlich älteren Mann, dem Regisseur Peter Zadek, zusammengelebt. Im Roman reist das Paar … > Weiterlesen
Der letzte seiner Art
Die französische Schriftstellerin und Verlegerin Sibylle Grimbert hat sich in ihrem in Frankreich preisgekrönten und nunmehr in deutscher Übersetzung vorliegendem Roman ein ungewöhnliches Thema vorgenommen: die Beziehung eines Naturforschers zu einem vom Aussterben bedrohten Vogel, dem titelgebenden „letzten seiner Art“. Die Handlung spielt im Jahr 1835, und zumindest das darin auftretende Tier, der seit 1844 als ausgestorben geführte „Riesenalk“, eine dem Pinguin verwandte Vogelart, ist belegt. Der vom Naturhistorischen Museum in Lille nach Island entsandte Zoologe Gus wird Zeuge, wie die Vögel dort von rohen Seeleuten massakriert werden, nimmt sich in der Folge eines verletzten jungen Alks an und begreift allmählich, dass er sich in diesem dem vermutlich letzten Überlebenden … > Weiterlesen
Weil da war etwas im Wasser
Der Autor Luca Kieser ist Jahrgang 1992, wuchs in Tübingen auf und hat zunächst in Heidelberg Philosophie, danach in Leipzig am dortigen Literaturinstitut studiert. Zurecht wurde sein in diesem Jahr erschienener Debütroman Weil da war etwas im Wasser für den Deutschen Buchpreis nominiert, leistet Kieser doch etwas, was gerade unter jungen Autoren inzwischen Seltenheitswert hat: nämlich sprachlich zu experimentieren. In Zeiten künstlicher Intelligenzen, medialer Vernetzung und im virtuellen Raum generierender Sprachen, steht der personale Erzähler klassischer Bauart inzwischen wie ein exotisches Zootier aus ferner Vergangenheit da. Warum ihn also nicht durch einen Riesenkalmar ersetzen, der in jedem seiner Fangarme ein eigenes Gehirn hat und nach der Berührung mit einem Tiefseekabel … > Weiterlesen
Der Tiefseetaucher und Meeresforscher François Sarano war bereits seit den 1980er Jahren an Expeditionen des legendären Kollegen Jacques-Yves Cousteau beteiligt und wurde in deren Verlauf für eine zu Unrecht dämonisierte, gleichwohl vom Aussterben bedrohte Tierfamilie sensibilisiert. Seine Faszination für Haie ist gleichermaßen emotional wie rational grundiert: Er betrachtet sie als 450 Millionen Jahre altes Erfolgsmodell der tierischen Evolution, das erst durch den Auftritt des modernen Menschen seine Existenzgrundlage zu verlieren droht. Sarano zeigt, dass die Verteufelung des Hais als eine Art Wolf der Meere erst seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts existiert. Tatsächlich verhält sich die Situation umgekehrt, als im gängigen Narrativ vom gefährlichen Hai postuliert wird: Während pro Jahr … > Weiterlesen
Halbmondzeit
Es geschieht nicht häufig, dass ein 69-Jähriger auf der Bühne des Literaturbetriebs debütiert. So geschehen im Fall der im Berliner Elfenbein-Verlag erschienenen Erzählung Halbmondzeit von Michael Schroeder. Hinzuzufügen ist freilich, dass dem Autor als gestandenem Historiker und Altphilologen die literarische Bühne nicht ganz fremd gewesen ist. Er trat u.a. als Autor einer Biographie der Sappho von Lesbos, „Europas erster Dichterin“, in Erscheinung und übersetzte Gedichte des bedeutenden griechischen Lyrikers Konstantinos Kavafis (1863-1933). Überdies führten ihn zahlreiche Forschungsreisen in den Mittelmeerraum von Süditalien über Griechenland und die Schwarzmeerländer bis in den Nahen Osten. Die daraus resultierende Vertrautheit mit mediterraner Landschaft, Kultur und Literatur ist seinem nun vorliegenden Buch deutlich anzumerken – … > Weiterlesen
Tasmanien
Der italienische Autor Paolo Giordano wurde durch seinen Bestseller Die Einsamkeit der Primzahlen bekannt, mit dem er 2008 debütierte und für den er ad hoc den renommierten Premio Strega erhielt. Ein interessanter Aspekt seiner Biographie besteht darin, dass er promovierter Teilchenphysiker ist, entsprechend spielen naturwissenschaftliche Themen wie auch die Persönlichkeiten von Wissenschaftlern in seinen Werken eine wesentliche Rolle. Dass er diese sprachlich gewandt und genuin literarisch darzubieten vermag, macht das Erfolgsgeheimnis seiner Bücher aus. Das Thema seines neuen Romans ist – ganz allgemein gesprochen – die in zahlreichen Facetten von Umweltzerstörung über Terroranschläge und seltsame Viren bis hin zu eskalierenden Kriegen drohende Apokalypse – mit einem Zitat aus dem Roman … > Weiterlesen
Der US-amerikanische Historiker und Soziologe Marcus Rediker ist spätestens durch sein Buch über Piraten und Freibeuter auch in Deutschland (zumindest eingeweihten Lesern) wohl bekannt. Jetzt hat der kleine Verlag Assoziation A eines seiner Hauptwerke in deutscher Übersetzung herausgebracht, das im amerikanischen Original bereits 2007 erschienen ist. Darin heißt es auf Seite 29: „Das Sklavenschiff ist ein Geisterschiff, das an den Rändern des modernen Bewusstseins segelt.“ Man könnte Redikers Buch eine Tiefenbohrung an den verdrängten Ursprüngen der Neuzeit nennen, denn tatsächlich laufen auf den von Westafrika nach Amerika segelnden Sklavenschiffen einige zentrale Entwicklungslinien zusammen, die die Etablierung des europäischen und schließlich globalen Kapitalismus bestimmt haben. Rediker untersucht all diese Elemente vom … > Weiterlesen
Wirres Haar. 399 Tanka
Es geschieht nicht selten, dass literarische Werke einige Jahrzehnte brauchen, um über ihren eigenen Sprachraum hinaus Wahrnehmung zu erfahren. Dass es deutlich mehr als ein Jahrhundert dafür braucht, ist jedoch überraschend und womöglich ein Zeichen dafür, dass es noch einige von der viel beschworenen Globalisierung unberührte Inseln kultureller Überlieferung gibt. Im Fall von Yosano Akiko (1878–1942), deren literarisches Debüt aus dem Jahr 1901 nun erstmals in deutscher Übersetzung vorliegt, ist die Verspätung umso verblüffender, als es sich nicht nur um eine Meisterin der lyrischen Form Tanka handelt, sondern sie überdies als Revolutionärin und erste moderne Stimme der japanischen Dichtkunst gilt. Midaregami, so der Titel ihres im damaligen Japan Aufsehen … > Weiterlesen
Loredana Nemes ist im Siebenbürgischen Hermannstadt geboren, hat in ihrer Kindheit eine Zeit lang im Iran gelebt und ist heute als Fotokünstlerin in Berlin ansässig. Mit den Wäldern der Karpaten, die sie aus ihrer Kindheit kennt, hat der Buchenwald der Stubnitz auf Rügen gemeinsam, dass er zum UNESCO-Welterbe der europäischen Buchenwälder zählt. Insofern war es wohl nur eine Frage der Zeit, dass Loredana Nemes die Halbinsel Jasmund mit ihrer Waldlandschaft und Kreideküste entdeckt. Es geschah, als sie nach der erschöpfenden Vorbereitung einer großen Ausstellung einen Rückzugs- und Erholungsort suchte, wobei der einmal gefundene Ort sie nicht mehr losgelassen hat. 15 Besuche in vier Jahren haben sich nun in einer Einzelausstellung … > Weiterlesen