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Belletristik

Tochter einer leuchtenden Stadt

Defne Suman

Wichtige Bücher werden heutzutage nicht nur deswegen übersehen, weil sie in kleinen unabhängigen Verlagen erscheinen, die nicht über die Marketingbudgets der dominierenden Großverlage verfügen. Sie können auch dadurch aus dem Blick geraten, dass sich Großverlage der Rechte dafür bemächtigen, dies aber in Verkennung der eigentlichen Zielgruppe und literarischen Qualitäten tun. So offenbar geschehen im Fall des Debütromans der türkischen Autorin Defne Suman, der im Original unter dem Titel Emanet Zaman (etwa „Die Sicherheit der Zeit“) und in den USA unter dem poetischen Titel The Silence of Scheherezade erschien und der nunmehr im zur Ullstein-Gruppe gehörigen List-Verlag in deutscher Übersetzung vorliegt. Der an gängige Unterhaltungsromane für Frauen erinnernde rosa Umschlag und die Umbenennung in Tochter einer leuchtenden Stadt verfehlen nicht nur die literarischen Qualitäten des Buches, sondern haben offenbar auch dazu geführt, dass es im deutschen Feuilleton kaum Beachtung gefunden hat. Unsere Antwort darauf ist eine ausdrückliche Empfehlung! 

Die in Istanbul geborene Autorin Defne Suman wuchs auf der zu den Prinzeninseln zählenden Insel Prinkipo auf, studierte in Istanbul Soziologie und lebt nach Stationen in Thailand, Laos und den USA derzeit in Athen. Ihr Roman spielt in der traditionsreichen Hafenstadt Smyrna, dem heutigen Izmir, umfasst das gesamte 20. Jahrhundert und erinnert in seiner gleichermaßen einfühlenden und poetisch ausufernden Sprache an die Tradition des vor allem in Südamerika beheimateten magischen Realismus.

Die Heldin des Romans wird im Laufe des Romans gleichsam dreimal neu geboren und nimmt dabei drei völlig unterschiedliche Identitäten an. Als illegitimer Tochter einer zur besseren Gesellschaft der Stadt gehörigen jungen Französin, ist ihr eigentlich bereits im Moment ihres ersten Zur-Welt-Kommens 1905 der frühe Tod bestimmt. Doch die damit beauftragte griechische Hebamme bringt es nicht über sich, das Neugeborene umzubringen und als Totgeburt zu deklarieren, sondern gibt es in die Familie einer jungen Griechin,  deren Kind am selben Tag bei einer komplizierten Geburt zusammen mit der Mutter ums Leben gekommen ist. Entsprechend wächst die Heldin in Unkenntnis ihrer tatsächlichen Herkunft in der griechischen Gemeinde der kosmopolitischen Metropole am östlichen Ufer des Mittelmeers auf, in der Griechen, Türken, Armenier, Levantiner, Franzosen, Engländer und weitere Ethnien seit Generationen zusammenleben. Als junge Erwachsene wird sie dann jedoch Zeugin eines sich infolge des Ersten Weltkrieges aufheizenden Nationalismus, der die griechische und türkische Bevölkerung gleichermaßen erfasst und spaltet und schließlich in Massaker und Krieg mit verheerenden Folgen für die Stadt und ihre Bewohner führt…