Echte „Ereignisse“ zeichnen sich dadurch aus, dass sie über weite Strecken unvorhersehbar sind. Etwas geschieht, was zwar prinzipiell möglich, aber dennoch nicht zu erwarten war, gleichsam aus dem Nichts, von einem Moment auf den andern – und erst im Nachhinein ist es möglich, bestimmte Kausalitäten, Konsequenzen, womöglich Sinnfragen mit dem Ereignis zu verknüpfen. In seinem 1937 verfassten Roman Gentleman über Bord schildert der als Sohn russisch-jüdischer Einwanderer in New York aufgewachsene Journalist, Drehbuchautor und Schriftsteller Herbert Clyde Lewis ein Ereignis par excellence: Der Held seines Buches, ein gewisser Henry Preston Standish, Repräsentant der im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts die Hauptstadt der kapitalistischen Welt bevölkernden „high society“ unternimmt eine Schiffsreise im Pazifik, um der lauernden Langeweile eines Börsenbrokers zu entgehen – und an einem eigentlich unscheinbaren milden Tag rutscht er beim Morgenspaziergang auf Deck in einem Ölfleck aus und geht über Bord.
Lässt der Held sich davon zunächst noch nicht weiter aus der Ruhe bringen, denkt an das Wesentliche, wie nicht zu nahe an die Schiffsschraube zu kommen, und sagt sich, dass sein Sturz ins Meer nicht lange unbemerkt bleiben kann, die Mannschaft seine Rettung einleiten wird usw. – wird im Laufe des Romans immer klarer, dass er sich in all diesen beruhigenden Rechenoperationen fundamental geirrt hat: dass es stattdessen um Leben und Tod geht und die Chance zu überleben mit jeder weiteren Minute immer kleiner wird. Während das Schiff wie ein sich entfernender Komet seine Bahn zieht, ist der über Bord gegangene Gentleman auf seine kümmerliche Existenz zurückverwiesen und muss allmählich begreifen, dass mit seinem Sturz ins Leere deren unweigerliches Ende heranrückt. Wieder einmal hat der mare-Verlag im Rahmen seiner bibliophil ausgestatteten Klassikerreihe eine fast vergessene literarische Perle ans Licht gebracht, die nun erstmals in deutscher Übersetzung vorliegt.