Mit der Kür des aus Sansibar stammenden, seit 1968 in Großbritannien beheimateten Abdulrazak Gurnah hat das aktuelle Nobelpreiskomitee Instinkt und eine glückliche Hand bewiesen – zumal der Preisträger bis dahin nur Eingeweihten bekannt und keiner seiner in deutscher Übersetzung vorliegenden Titel im Buchhandel noch lieferbar war. Die beiden seitdem im Penguin Verlag erschienenen Romane Das verlorene Paradies und Ferne Gestade weisen ihn als mitreißenden Erzähler aus, der den mythischen Kosmos um den Indischen Ozean kursierender Erzählungen in eine moderne Prosasprache übersetzt und dabei mühelos den Bogen von Tausendundeiner Nacht über ostafrikanische Lebenswelten zu Impressionen aus der späten DDR und dem Schicksal gegenwärtiger Migranten schlägt.
Der Autor nimmt diese entrückte Perspektive zum Anlass eines grandiosen literarischen Gemäldes, das von den Küsten der Insel Sansibar aus mit ethnologischem Blick auf die moderne Welt schaut. Und er schafft nebenbei eine Art von „ost-westlichem Diwan“, in dem die Erzählungen des Orients mit jenen zusammenfließen, die die abziehenden englischen Kolonialherren in Gestalt ihrer Bibliotheken in Ostafrika zurückließen Verglichen mit einer solchen, gleichsam doppelten „humanistischen Bildung“ der aus Sansibar stammenden Helden muten die Perspektiven der „ersten“ und „zweiten“ Welt – präsentiert durch das Großbritannien der 1990er Jahre und seine Einwanderungsbehörden sowie durch die Erfahrungen tansanischer Studenten mit dem einstigen sozialistischen „Bruderstaat“ DDR – ihrerseits beinahe provinziell an. Die beiden Helden des Romans, die als Asylsuchender in England und von den dortigen Behörden verpflichteter Dolmetscher aufeinander treffen, verbindet überdies eine gemeinsame Vorgeschichte in Sansibar, die durch eine erbitterte Familienfehde geprägt ist und im Verlauf des Romans erst nach und nach ans Licht kommt.