Der voluminöse neue Roman des großen türkischen Romanciers und Literatur-Nobelpreisträgers Orhan Pamuk spielt auf der fiktiven, von christlichen Griechen und muslimischen Türken bewohnten Mittelmeerinsel Minger und ist in den Jahren um 1900 angesiedelt. Eine einbrechende Pestepidemie erweist sich als Katalysator heftiger politischer Turbulenzen – beginnend mit der Ermordung des vom Sultan entsandten Seuchenbeauftragten und mündend in einer Serie von Attentaten, Putschen bis hin zur Loslösung der Insel vom Osmanischen Reich. Mit seinem bereits 2016, lange vor der Corona-Epidemie begonnenen Roman versucht Pamuk eine epische Parabel, die mit grotesken Übertreibungen auf die Bloßstellung korrumpierter bürokratischer Eliten und eines vollkommen bodenlosen Nationalismus gleichermaßen zielt. Dass die an klassischen Epidemie-Berichten wie dem Daniel Defoes über die Pest in London von 1772 orientierte Story vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie eine überraschende Aktualität bekommt, konnte der Autor beim Beginn seines Schreibens nicht ahnen. Im Sinn eines gesteigerten Genusses der anspielungsreichen und mit kriminalistischen Arabesken aufgeschmückten Handlung tut man sicher gut daran, das Thema Corona auch beim Lesen zu vergessen, was angesichts der anhaltenden Präsenz des Themas aber wohl nur ein frommer Wunsch ist.
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