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Belletristik

Der Hafen von Toledo

Anna Maria Ortese

Der Roman Der Hafen von Toledo der italienischen Schriftstellerin Anna Maria Ortese erschien im Original bereits 1975 und liegt nun erstmals auf Deutsch vor. Es ist ein voluminöses, sprachmächtiges, traumwandlerisch-unzeitgemäßes und rätselhaftes Buch, das bei seinem Erscheinen breite Ablehnung bewirkte und sich kaum verkaufen ließ – was auch der Grund ist, warum es fast 50 Jahre unübersetzt geblieben ist. Die Autorin selbst hat es gleichwohl zeitlebens für ihr bedeutendstes Werk gehalten. Hinter dem Schauplatz Toledo verbirgt sich Orteses langjährige Heimatstadt Neapel, das Geschehen darf als poetische Übersetzung ihrer eigenen jugendlichen Selbstfindung in der Zeit des Mussolini-Italiens der 1930er und 40er Jahre gelesen werden. Das Zeitgeschehen meldet sich indes eher in Chiffren und Metaphern als eindeutigen Zeugnissen zu Wort, etwa wenn man in einem „Don Pedro“ Mussolini und in „türkischen Vögeln“ Bombenflugzeuge erkennt. Der Leser kann der wie träumend sich erinnernden und phantasierenden Autorin gleichsam über die Schulter schauen, wie sie sich autodidaktisch zur poetischen Denkerin erzieht und in eben diesem Phantasieren den Zugang zur Wirklichkeit ihrer Epoche entdeckt.