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Autobiographische Essays

Arbeitet nie! Die Erfindung eines anderen Lebens

Hanna Mittelstädt

Hanna Mittelstädt gründete 1972 gemeinsam mit Lutz Schulenburg und Pierre Gallissaires, einem politischen Aktivisten aus Frankreich und Impulsgeber der situationistischen Bewegung, den Verlag Edition Nautilus in Hamburg und führte diesen bis 2016. Inzwischen ist sie auch als Autorin hervorgetreten, zuletzt mit einer Art Verlagsbiografie unter dem Titel: Arbeitet nie! Die Erfindung eines anderen Lebens. Der Titel des Buches nimmt auf eine Parole der revolutionären Bewegung in Frankreich Bezug, die in der Originalfassung „Ne travaillez jamais!“ in den 1950er und 1960er Jahren dortige Häuserwände zierte und insbesondere von der Gruppe der Situationisten wiederholt aufgegriffen wurde. Dank Pierre Gallissaires hielt sie auch in das Büro der jungen Hamburger Verlegerin Einzug – wiewohl deren Biographie angesichts der selbstausbeuterischen Herausforderung, einen unabhängigen Verlag zu führen, schwerlich als unmittelbare Einlösung solcher Forderung gelesen werden kann.

Nichtsdestotrotz liefert ihr Buch ein Stück höchst lebendig erzählter Zeitgeschichte und bietet reichhaltige Einblicke in die Debatten und Aktivitäten der Nach-68er-Zeit mit ihren vielfältigen Verbindungen von revolutionärem Aktivismus, Kunst und utopischem Denken. Zwar ist heute kaum noch allgemein bekannt, was damalige Bewegungen wie die der Situationisten in Frankreich und der davon beeinflussten Hamburger Subrealisten programmatisch auszeichnete, doch staunt man bei der Lektüre nicht schlecht, wie aktuell deren Ideen und Forderungen sich angesichts aktueller Entwicklungen ausnehmen. Mehr noch: Die Offenheit, mit der die Beteiligten Debatten über Themen wie Sex und Gender oder die Verheißungen einer „politischen Ökologie“ führten, mutet angesichts heutiger Diskursmachtallüren und Cancel Culture stellenweise wie ein Brief aus der Zukunft an.