Der im letzten Jahr früh verstorbene US-amerikanische Anthropologe David Graeber ist unter kritischen Betrachtern der im Abendland erzählten großen „Geschichte“ ein fester Begriff. Seine Bücher über „Bullshit Jobs“ und die Geschichte des Schuldwesens gelten als wegweisend, ebenso legendär ist sein Einsatz für die „Occupy Wallstreet“- Bewegung. Aus seiner Fundamentalkritik am ökonomischen System des westlichen Kapitalismus hat Graeber zeitlebens ebenso wenig einen Hehl gemacht wie aus seiner Sympathie für einen libertären Anarchismus. In seinem bereits posthum veröffentlichten, gemeinsam mit dem Archäologen David Wengrow verfassten letzten Buch unter dem Titel Anfänge hat Graeber den Blick zuletzt darauf gerichtet, inwieweit Impulse aus indigenen Kulturen, etwa der nordamerikanischen Indianer, maßgeblich auf die europäische Aufklärung und das Gesellschaftsverständnis der Moderne gewirkt haben, ohne dass dieser Einfluss noch ohne weiteres kenntlich ist. Aus seinem Nachlass ist nun eine kulturgeschichtliche Untersuchung der Piraterie in der frühen Neuzeit und der legendären Piratenrepublik auf Madagaskar erschienen, die historisch an ähnlicher Stelle ansetzt. Darin legt Graeber unter Bezug auf eigene Feldforschungen in Madagaskar und eine Fülle akribisch recherchierter Quellen aus dem 17. und 18. Jahrhundert nahe, dass die in Europa kursierenden Berichte über die Piraten zur Etablierung eines aufgeklärten Verständnisses von persönlicher Freiheit und demokratischem Zusammenleben beigetragen haben.
Kategorien