Nachdem die Faktizität sich in den letzten Jahren mehr und mehr aus dem politischen Diskurs verflüchtigt hat und dieser sich selbst zu guten Stücken in eine Untergattung der phantastischen Literatur verwandelt hat, ist es offenbar Zeit für eine Romanliteratur geworden, die umgekehrt verfährt und denkbare andere regionale bzw. globale Geschichten generiert. Man könnte vielleicht probeweise von „postfaktischen Weltfiktionen“ sprechen. Neben dem Franzosen Laurent Binet, dessen Roman Eroberung die Kolonialisierung Amerikas ins Gegenteil verkehrt, hat sich auch der slowakische Autor Michal Hvorecky mit seinem neuen Roman Tahiti Utopia einer solchen Fiktion verschrieben. Darin imaginiert er einen Verlauf der Versailler Verhandlungen nach dem 1. Weltkrieg, in dessen Folge die heutige Slowakei dem erstarkenden Ungarn zugeschlagen wird und es zum Exodus der slowakischen Bevölkerung kommt. Dieser führt die Slowaken zu Beginn der 1920er Jahre auf die Südseeinsel Tahiti, wo in der Folge die slowakischen und südseeinsularen Mentalitäten und Nationalcharaktere miteinander verschmelzen. Die Handlung des grotesken Romans ist wechselweise in den 1910er und 20er Jahren sowie in der 100 Jahre späteren Gegenwart angesiedelt. Durch diesen Kunstgriff ist der Leser ebenso unmittelbar zugegen, wenn die großmäuligen europäischen Populisten und Nationalisten in Versailles Europa unter sich aufteilen, wie wenn im Jahr 2020 eine slowakische Jugend-Landwehr auf Tahiti öffentliche Bücherverbrennungen organisiert – und erlebt im Übrigen auch hautnah mit, wie die sogenannte „Donaukarawane“ der auswandernden Slowaken Anfang der 1920er Jahre Deutschland passiert. Während sie beim Eintreffen auf dem Münchner Hauptbahnhof noch von begeisterten Helfern willkommen geheißen wird, dauert es nicht lange, bis Verwünschungen an das „slowakische Geschmeiß“ und Rufe nach sofortiger Grenzschließung erschallen.
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