Die italienische Schriftstellerin Dacia Maraini trat bereits im letzten Jahr in unsere Wahrnehmung, als – ebenfalls im Folio Verlag – ihr 1962 publizierter Debütroman Tage im August in deutscher Neuübersetzung erschien. Daran wird die Geschichte eines 14-jährigen italienischen Mädchens erzählt, das im Sommer 1943 als Halbwaise in einem Internat lebt und seine ersten erotischen Erfahrungen macht. Tatsächlich verbrachte die Autorin selbst einen Großteil ihrer Kindheit in Japan, wo ihre Familie während des Zweiten Weltkriegs ansässig war und aufgrund der Weigerung ihres Vater, die japanische Militärgesetzgebung zu akzeptieren, schließlich ins Konzentrationslager geriet. Was Maraini dort als Kind erlebte, übersteigt zum Teil heutige Vorstellungskraft und lässt an Augenzeugenberichte aus deutschen und russischen Lagern denken, die dem 20. Jahrhundert den Stempel als eines der barbarischsten überhaupt aufgedrückt haben. Die Autorin berichtet von Gewalt, Misshandlung, Hunger, Kälte, Krankheiten, doch – und das macht dieses Buch zu einer unbedingten Empfehlung – ohne nachträglichen Groll gegenüber den Japanern als Nation und Kultur. Ganz im Gegenteil tut das Erlebte der tiefen, in ihrer vorherigen Kindheitserfahrung gründenden Zuneigung zu Land und Leuten keinen Abbruch. Vielmehr versichert sich die Autorin aus der rückblickenden Perspektive beider Seiten ihrer Kindheitserfahrung und schafft im Ausdruck dieser Widersprüchlichkeit ein Denk- und Sinnbild für ähnliche Erfahrungen, wie sie etwa auch das gespaltene Verhältnis der Deutschen zu ihrer nationalen Vergangenheit prägen.
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