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Worte am seidenen Faden

Zum Tod der Dichterin Irmgard Senf

von Volkmar Billig

Bald nach Eröffnung unserer Buchhandlung vor zehn Jahren habe ich Irmgard Senf als wache Beobachterin und Literaturkennerin schätzen gelernt, die mich mit ihrem offenen Wesen und ihren pointierten Bemerkungen für sich einnahm. Noch mehr überraschte und überwältigte mich die Bekanntschaft mit ihren Gedichten, indem ich unvermutet mit einer stilsicheren Dichterin Bekanntschaft schloss, die die Mittel avancierter Lyrik souverän mit feinsinnigen Reflexionen über Natur- und Weltgeschehen verband. Ich hatte in der Folgezeit mehrmals das Glück, Irmgard beim Vortrag ihrer eigenen Gedichte zuzuhören – gehörte sie doch zur eher kleinen Schar jener Autoren, deren Begabung zur Lesung und Rezitation ihrer Schöpferkraft nicht nachstand. Es waren eindrückliche Momente einer im Raum stehenden Magie von Sprache, ihre Texte bei solchen Gelegenheiten aus ihrem eigenen Mund zu hören, und wenn ich nur daran denke, ist es, als ob ihre markante weibliche Stimme noch immer in mir widerhallt. Wobei hinzuzufügen ist, dass sowohl Irmgards Stimme als auch ihren Sprachbildern bei aller Prägnanz zugleich etwas Zerbrechliches anhaftete, so als hätten die erklingenden Worte eigens für den kurzen Augenblick dieses einen Gedichts bzw. seines Vortrags zusammengefunden. Nicht zuletzt darin zeigen sich ihre Texte als ein poetisches Gleichnis des menschlichen Lebens und Denkens: „… wenn wir zu lieben nicht verlernen/ sehen/ es vollkommen denken/ ein seidener faden/ der uns hält.“

Irmgard Senf ist geborene Sassnitzerin, Jahrgang 1935, noch vor wenigen Wochen hat sie Schülern der Sassnitzer Schulen anlässlich einer Gedenkveranstaltung zum 80. Jahrestag der Bombardierung der Stadt von ihren persönlichen Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg erzählt. Allerdings verbrachte sie die knappe Hälfte ihres Lebens – von 1958 bis 1994 – als Garten- und Landschaftsarchitektin in Erfurt, wo mit Gabriele Stötzer(-Kachold) eine der wichtigsten Protagonistinnen unangepasster Lyrik und Lebensart der späten DDR zu ihrem engen Bekanntenkreis zählte. Nach ihrem eigenen Bekenntnis ist es der anregenden Freundschaft mit der – 20 Jahre jüngeren – Dissidentin und Dichterin zu danken, dass Irmgard Senf seit Mitte der 1980er Jahre, damals bereits über 50 Jahre alt, selbst Gedichte zu schreiben begann. Seit 1990 veröffentlichte sie diese in verschiedenen Literaturzeitschriften, begleitet von literarischen Performances mit Kolleginnen wie Ulrike Sebert und Silke Peters. Im Jahr 2013 erschien im verdienstvollen Stralsunder mückenschwein-Verlag unter dem Titel „Einnorden“ ihr überfälliger erster Gedichtband. Ähnlich wie Gabriele Stötzer verbindet Irmgard Senf in ihrer Lyrik den Mut zum sprachlichen Experiment mit explizit weiblichen bzw. feministischen Perspektiven und sinniert etwa poetisch darüber, wie bzw. was Frauen wahrhaben“ oder wie „Liebe uns tauscht“. Dennoch ist ihre Poesie nicht in einfache Schubladen wie die eines „feministischen“ Schreibprogrammes zu pressen und pflegt gleichermaßen das Zwiegespräch mit Geistern wie Martin Heidegger und Guiseppe Ungaretti sowie nicht zuletzt mit ihrem eigenen, erst kürzlich verstorbenen Mann, dem formbewussten Maler und Metallgestalter Helmut Senf.

Mit der Rückkehr auf die Insel Rügen kam zu diesen Inspirationsquellen eine schon von Kindheit vertraute und in gewisser Weise per se lyrische Anstiftung hinzu: das Meer und seine Küsten, die von den anbrandenden Wellen verhießene Weite, die wandelhafte Natur mit ihrem Werden und Vergehen, ihren Lichtspielen und aufkommenden Winden. Die heimatliche Küstenlandschaft schrieb sich – gleichsam im Dialog mit der reichen Tradition deutscher Naturlyrik – als hintergründiger Fixpunkt in ihre poetische Spurensuche ein. Die in ihrem letzten, 2019 auf den Weg gebrachten Gedichtband „Halblicht“ versammelten Texte sind durchweg auf den Tag ihrer Entstehung datiert und unterstreichen derart das Überraschende und Momenthafte des darin gefundenen Ausdrucks. Es ist zu hoffen, dass ihre seither entstandenen und nachgelassenen Gedichte in naher Zukunft das Interesse eines engagierten Verlags und eines breiteren Publikums finden. Ihre prägnante Stimme, mit der sie diese schriftlich und mündlich artikuliert hat, wird uns fehlen.

Ganz am Ende von „Halblicht“ stehen – datiert auf den 08.01.10 – diese Zeilen:

Stille

Weißes Wehen

Filigranes Biegen Blühen

Omen übers Land gehängt

Fast seiden sind die Dinge

Dass Gewalt nicht

Sprache finden

mag

Foto: © Christian Thiele