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Inseln zwischen Einsamkeit, Utopien und Sehnsucht

Unveröffentlichter Vortrag des Kulturwissenschaftlers Volkmar Billig, gehalten aus Anlass des „Hiddenseer Äquinoktiums“ 2022  

Es freut und ehrt mich, auf einer so mustergültigen Sehnsuchtsinsel wie Hiddensee über einige Aspekte der Inselsehnsucht selbst zu sprechen. An den Beginn meines Vortrags will ich eine Tagebuchnotiz des Schriftstellers und exzessiven Inselreisenden Ernst Jünger setzen, die ich auch meinem Buch über die Geschichte der Inselfaszination vorangestellt habe: „Über Inseln läßt sich viel erzählen, und man findet leichter den Anfang als das Ende dabei. Ich entsinne mich der Unterhaltung mit einem jungen Freunde, der eine Monographie »Die Insel« zu schreiben beabsichtigte. Ich mußte ihm abraten, denn der Stoff ist so gewaltig, daß er gelehrte Gesellschaften in Atem halten kann. Inseln gibt es nicht nur wie Sand am Meere, sondern alles ist Insel, auch die Kontinente, und selbst die Erde ist ein Inselchen im Äthermeer.“

Jüngers Warnung und deren guten Gründen zum Trotz möchte ich im Folgenden versuchen, die im Titel genannten Stichpunkte der modernen Inselphantasie mit ein paar hoffentlich hilfreichen Bemerkungen zu umkreisen. Und ich möchte Sie zunächst auf einen womöglich verblüffenden Befund aufmerksam machen: dass man nämlich all diese genannten Zuschreibungen an Inseln bis zum Beginn der Neuzeit vergeblich sucht, jedenfalls finden Sie sich nicht in der literarischen Überlieferung, die uns aus Antike und Mittelalter erreicht hat. Vielmehr zeigt ein genauerer Blick auf die Quellen, dass die Reden und Vorstellungen von Inseln seit der Antike einem deutlichen Wandel unterworfen sind und dass explizite „Inselutopien“ erst mit den Entdeckungsreisen der beginnenden Neuzeit, einsame Inseln mit der Definition eines individuellen Subjekts und eine eigentliche „Inselsehnsucht“ erst mit Rousseau und der von ihm eingeleiteten romantischen Ära aktenkundig sind.

Dass diese Zuschreibungen heute nicht selten wie den Inseln selbst anhaftende Wesensmerkmale erscheinen, erklärt sich daraus, dass die in den letzten 200 Jahren verfassten Literatur- und Geistes-Geschichten gleichsam auf die darin zitierten klassischen Texte abgefärbt haben. Wenn etwa der von Platon mehrmals erwähnte Atlantis-Mythos oder die von Diodor überlieferte Erzählung von einer sogenannten „Sonneninsel“ im Indischen Ozean als antike „Utopien“ und Vorläufer der von Thomas More zu Beginn des 16. Jahrhunderts begründeten Literaturgattung herhalten, ist dies eine Kategorisierung, die sich kaum auf die Texte selber stützen kann. Was uns daran heute in gewisser Weise „utopisch“ erscheint, sind Anleihen aus im Mittelmeerraum seit alters her kursierenden Mythen, wie man sie auch aus der Odyssee und anderswoher kennt. Im Übrigen fällt auf, dass die Inseln, über die antike Autoren schreiben, durchweg bevölkert und mitnichten „einsam“ sind, in der Regel von dort seit dem anfänglichen Goldenen Zeitalter überdauernden halb mythischen, halb menschlichen Wesen, denen technischer Fortschritt wie Ackerbau, Schifffahrt etc. fremd sind . Mit anderen Worten sind „einsame“ Inseln in der Antike so wenig wie „utopische“ anzutreffen, und auch ein „sehnsüchtiger“ Inseltourismus ist aus den Quellen nicht zu belegen. Wenn etwa Angehörige der römischen Oberschicht auf Inseln reisten, dann allenfalls, um dort die verehrten griechischen Baudenkmäler in Augenschein zu nehmen oder um sich dem Blick der Öffentlichkeit zu entziehen wie der Kaiser Tiberius, der sich lieber auf Capri als in Rom aufhielt (was seine Zeitgenossen keineswegs eine ausgeprägte romantische Sehnsucht, sondern eher wenig ehrenwerte Gründe vermuten ließ).

Eher schon könnte man in diversen mit Inselvorstellungen operierenden Schöpfungsmythen eine Art Vorform der modernen Reden von „einsamen Inseln“ erkennen. Auch lässt sich vermuten, dass die von Ägypten bis Indien anzutreffenden mythischen Ur-Inseln und darauf operierenden Giganten oder Götter in einer spezifischen literarischen Tradition der Antike fortwirken: nämlich der ausdrücklichen Personalunion von dorthin reisenden Seefahrern und darüber berichtenden Autoren. Ein Held wie Odysseus hat die ihm zugeschriebenen Inselabenteuer nicht nur angeblich selbst erlebt, er ist auch der Einzige, der sie bezeugen und davon Bericht geben kann, wobei ihm Homer – als wolle er die Verunsicherung auf die Spitze treiben – auch noch ausdrücklich die Fähigkeit attestiert, von der Wahrheit nicht unterscheidbare Lügen zu erzählen. Was im Übrigen zur Folge hatte, dass der verschlagene Odysseus in der antiken Rezeption als eine Allegorie des schöpferischen Dichters galt!

Erste handfeste Tendenzen hin zu  Denkarten insularer Einsamkeit und auf Inseln angesiedelter Gesellschaftsentwürfe tauchen erst in einer Reihe von Schriften auf, die im sogenannten „Goldenen Zeitalter“ der arabischen Hochkultur vom 9. bis zum 12. Jahrhundert entstanden. Das bekannteste Beispiel dafür gibt der allegorische Roman Risālat Ḥayy ibn Yaqẓān des in Granada und Marrakesch wirkenden Arztes, Mathematikers und Philosophen Abū Bakr ibn Tufail (um 1105–1185). Dieser zuweilen als „Ur-Robinson“ missverstandene Text zielt auf eine Parabel, die die Zusammengehörigkeit philosophischer Erkenntnis und mystischer Offenbarung auf dem Weg zur Wahrheit illustriert. Nach einem Vorwort mit der Darlegung einiger philosophischen Prämissen erzählt der Autor das Leben von Hayy ibn Yaqzān (wörtlich übersetzt: der „Lebende, Sohn des Wachenden“), der auf einer Insel im Indischen Ozean aufwächst und dort ohne Bekanntschaft mit einem einzigen Menschen, allein durch aufmerksame Naturbeobachtung und Selbstreflexion zur Erkenntnis der Natur und des höchsten göttlichen Wesens gelangt. Im Verlauf der Erzählung schreitet der Held von der triebhaften „Selbsterhaltung“ seines Körpers zur Erkenntnis der Ordnung des ihn umgebenden Universums fort. Zuletzt entdeckt er diverse mystisch-sufistische Techniken des „Entwerdens“ und seine Seele verschmilzt schließlich mit dem höchsten himmlischen Wesen.

Mit seinem vom Werk des großen Philosophen und Enzyklopädisten Avicenna angeregten allegorischen Text reagiert der Autor Ibn Tufail auf die radikale Kritik der philosophischen Metaphysik durch Abū Ḥāmid Muḥammad al-Ghazālī (1058–1111), der Avicenna und den an seine Lehre anknüpfenden falāsifa („Philosophen“) in einer viel beachteten Schrift unter dem Titel „Die Inkoheränz der Philosophen“ vorgeworfen hatte, eine Alternativreligion zu begründen, die in Widerspruch zur prophetischen Offenbarung steht. Ibn Tufail seinerseits verteidigt die Möglichkeit eines jedem Einzelnen offenstehenden Weges der philosophischen Erkenntnis – auch für den Fall, dass der Betreffende über keinerlei Kenntnis der prophetischen Offenbarung verfügt. Das allegorische Inselszenario seines Romans versteht sich als sinnbildliche Experimentieranordnung, um diese These zu illustrieren. Über denkbare Einflüsse des Buches auf europäische Autoren ist viel spekuliert worden. Interessanterweise kursierte der Roman Ibn Tufails schon ausgangs des 15. Jahrhunderts im Bekanntenkreis des florentinischen Philosophen Pico della Mirandola, ohne zu diesem Zeitpunkt verlegt und einem breiten Publikum bekannt zu werden. Erst 1671 erschien er in England in lateinischer Übersetzung, die englische Übersetzung folgte drei Jahre später. Unter dem Titel The Self-Taught Philosopher, auf deutsch: Der Philosoph als Autodidakt, wurde das Buch in der Folgezeit in ganz Europa bekannt. Zu seinen ersten westlichen Lesern gehörte John Locke – derselbe englische Philosoph, der in seinem wenig später erschienenen Essay Concerning Humane Understanding das Cartesische Ego als „one’s own self“ salonfähig gemacht und von der bei Descartes noch mitschwingenden Vorstellung einer christlichen Seele abgekoppelt hat. So zeigt sich, dass die literarischen Reden von einsamen Inseln – ähnlich wie im arabischen Mittelalter – auch im neuzeitlichen Europa in genau dem Moment anheben, in dem sich parallel dazu ein philosophischer Subjektivismus artikuliert und zum Leitmotiv der geisteswissenschaftlichen Debatte wird.

Aber wir springen vom Zeitalter Descartes‘ und Lockes noch einmal 150 Jahre zurück an die Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert, als von einem menschlichen Ego noch keine philosophische Rede ist, aber ein neuer Typus des Inselhelden mit durchaus egomanischen und autoritären Zügen auf die Bühne der Geschichte tritt: der im Auftrag seines fürstlichen Machthabers um die Welt reisende und nicht nur Inseln entdeckende, sondern sie auch gleich in Besitz nehmende Seereisende nach dem Vorbild von Kolumbus, Vasco da Gama und Magellan. Kaum zufällig hat der englische Lordkanzler Thomas More sein epochemachendes Buch Utopia fast zeitgleich mit der ersten Weltumseglung durch Ferdinand Magellan publiziert. Und aus den Jahren zwischen 1516 und 1519 datiert auch der erste (nicht ausgeführte) Plan eines Inselschlosses in der westlichen Architektur, der auf Leonardo da Vinci zurückgeht. Der Gebrauch der in der Folgezeit europaweit in Mode kommenden Inselschlösser war zudem mit einem weiteren typischen Aspekt der Barockkultur verknüpft: avancierte die Insel doch zu einem der beliebtesten Themen für theatralische Aufführungen, Hoffeste und Ballette, die vorwiegend auf der Odyssee und den mittelalterlichen Artussagen basierten. Oftmals war der Souverän selbst als Akteur an den Inszenierungen beteiligt und trat als Eroberer und Überwinder der archaischen Inselmächte auf. Die legendären Inseln an den bis dahin kaum zugänglichen Welträndern wurden derart gleichsam literarisch, architektonisch und theatralisch „einverleibt“ und zu einem dekorativen Bestandteil der europäischen Höfe, wo sie mit ihren phantastischen Zuschreibungen für die fürstlichen Machtansprüche bürgten. Kaum zufällig fanden die großartigsten Feste mit insularen Themen am königlichen Hof in Madrid statt, bevor sie zu Zeiten Ludwig XIV. in Versailles und anderswo kopiert worden sind.

Wie schon im Falle der antiken Überlieferungen ist indes auch im Fall von Thomas Mores 1517 erschienenem Klassiker „Utopia“ die unvoreingenommene Lektüre des originalen Büchleins, nicht der Zusammenfassungen in den gängigen „Geistesgeschichten“ zu empfehlen. Man wird dann finden, dass es sich in erster Linie um ein grandioses literarisches Verwirrspiel handelt, bei dem niemals klar ist, wie ernst oder satirisch es eigentlich gemeint ist. Was Thomas More vor dem Hintergrund der Fahrt aufnehmenden Entdeckungsreisen in die Welt setzt, ist die perfekte Simulation einer eben solchen Entdeckungsreise und dabei gefundenen Insel, die das zeitgenössische England mit diversen subversiven Ideen der gesellschaftlichen Neu- und Umordnung konfrontiert. Die damaligen Leser des Textes mussten beinahe zwingend glauben, dass dieses „Utopia“ tatsächlich existiert, so wie Hunderte weitere Inseln, deren Kunde mit jeder neuen Entdeckungsfahrt die Ohren des europäischen Publikums erreichte. More hat das Spiel mit dieser Realitätsfiktion so weit getrieben, dass er der zweiten englischen Auflage Karten und Stellungnahmen europaweit bekannter Humanisten angefügt hat, die allesamt für die Realität Utopias bürgen. Er geht in einem eigenen Vorwort so weit zu sagen, dass er dem Text, wenn er ihn selbst erfunden hätte, doch wenigstens einige verräterische Hinweise wie etwa mehrdeutige Namen eingefügt hätte – also exakt das, was er mit der Bezeichnung „Utopia“ tatsächlich gemacht hat.

Man kann die ganze Wirkung dieses Urtexts der utopischen Gattung erst dann ganz ermessen, wenn man nicht nur in den daran anknüpfenden „Utopien“ einer künftigen Gesellschaft, sondern auch in sprachgewaltigen Romanen wie denen von Francois Rabelais, die der selbstreferenziellen Literatur der europäischen Moderne Vorschub geleistet haben, ihre legitimen Erben sieht. Seit „Utopia“ ist die strukturelle Eigenheit von Inseln, dass sie existieren und nicht existieren, auftauchen und verschwinden bzw. diese oder jene Überraschung bereithalten können, zum Markenzeichen einer menschengemachten Geschichte wie auch einer schöpferischen Poesie und Kunst geworden. Utopisches Denken heißt, alles Denkbare für möglich und potenziell wirklich zu halten – sei es in politischem oder literarischem Sinn.  

Eine nochmals neue Justierung erfährt die Gattung der literarischen Utopie knapp 100 Jahre nach dem Urtext Thomas Mores durch den Dominikanermönch Tommaso Campanella. Der von ihm verfasste Dialog über die angeblich auf der Insel Taprobane (Ceylon) situierte Sonnenstadt entstand 1602, während eines langen Gefängnisaufenthalts seines Autors, publiziert wurde er 1623. Bei allen Anlehnungen an das in Mode gekommene Genre der Inselutopie spielen solche literarischen Vorläufer in Campanellas Text bei genauerer Hinsicht eine eher untergeordnete Rolle: Viel wichtiger ist, dass die Bewohner der Sonnenstadt dank weltweiter Agenten jede menschliche Sprache beherrschen und ihre Aktivitäten auf einem umfassenden und tiefen Wissen in jeder erdenklichen Hinsicht basieren. Ihr idealer „Staat“ erscheint eher wie eine „Enzyklopädie“, wobei der Autor diese originelle Vision in gleich drei Manifestationen deutlich macht: 1.) in der Anlage der Sonnenstadt selbst, zu der ein System von Mauern mit Inschriften und Illustrationen gehört, wenn man so will eine Art „Freilichtmuseum“, das alle Wissensgebiete umfasst, 2.) als „Buch der Bücher“, das ebenfalls sämtliche Ergebnisse der menschlichen Wissenschaft enthält, und 3.) in der Figur des Sol Metaphysicus, des allwissenden politischen und intellektuellen Führers des Staates. So gesehen fungiert die Sonnenstadt viel weniger als utopisches Gemeinwesen denn als Spiegel eines allwissenden aufgeklärten Subjekts (hinter dem sich leicht der universal gebildete Autor selbst erkennen lässt, der sich – in den Mauern seiner Gefängniszelle – als „Sonne der Aufklärung“ inszeniert).

Wenn der englische Dichter John Donne zur selben Zeit seiner Einsicht Ausdruck verliehen hat, das „kein Mensch eine Insel“ und auch nicht „vollständig in sich selbst“ ist, antwortet er auf den Auftritt solcher neuer Inselhelden, die sich in der Tat selbst zu genügen scheinen. Neben Campanella liefert Donnes Landsmann William Shakespeare mit der Figur seines Inselhelden Prospero aus dem Drama Der Sturm ein zu jener Zeit viel beachtetes Beispiel dafür. Interessant ist auch, dass die altenglische Formulierung und Schreibweise John Donnes, in subtiler Form mit der Doppeldeutigkeit der Insel als „Ich-Land“ spielt: „No man is an Iland, intire of it selfe“.  Der Diskurs des 17. Jahrhunderts sollte in der Folgezeit nicht müde werden, dem alten John Donne das Gegenteil zu beweisen, wobei das Pronomen „self-selbst“ sich spätestens seit den Schriften von John Locke zum Substantiv und zur gültigen Übersetzung des von Descartes postulierten Ego gemausert hat.

Der ausgreifendste Versuch, die so hergestellte Gleichung von aufgeklärtem Ich und insularem „Ich-Land“ mit Descartes‘ neuer Philosophie der Subjektivität in Einklang zu bringen, verdankt sich dem spanische Jesuiten und Moralisten Balthasar Gracián und lässt sich gleichsam als Gelenkstelle lesen, mit der die frühneuzeitliche Denkfigur der Insel als „I-Land“ auf den epochemachenden Plot von Daniel Defoes „Robinson Crusoe“ übersetzt wird. Die drei Bände des allegorischen Romans El Criticón erschienen zwischen 1651 und 1657, knapp zwanzig Jahre nach Descartes Diskurs über die Methode (1637). Die Parallelen zwischen Graciáns und Descartes‘ Suche nach einem sicheren Punkt jenseits aller wuchernden Zweifel sind nicht zu übersehen. Das beginnt mit der wiederholten Hervorhebung des „kritischen“ Impulses, den Gracián bereits im Titel festschreibt (einer seiner Helden heißt zudem „Critilo“, die Kapitel „Crisi“…).

Die beiden Helden des Romans sind ein naiver und unschuldiger junger Mann namens Andrenio („der Menschliche“) auf der einen und der humanistisch gebildete, weltgewandte und lebenserfahrene Critilo auf der anderen Seite. Der Roman beginnt mit einer Szene vor der Insel St. Helena, die seit dem 16. Jahrhundert dazu diente, auf der Route nach Asien straffällig gewordene Matrosen auszusetzen, und derart sporadisch besiedelt worden ist. Der schiffbrüchige Critilo wird vor deren Küste durch einen dort unter ungeklärten Umständen geborenen und allein lebenden jungen Mann, den besagten Andrenio, gerettet. Bereits die unmittelbar anschließenden Kapitel zeigen sich als literarische Illustration des von Descartes proklamierten selbstreflexiven Subjekts:

Wie schon der erwähnte Hayy Ibn Yaqzan hat sich auch der Inselbewohner Andrenio ohne jedes Wissen und ohne Kenntnis einer menschlichen Sprache als seiner selbst gewisses Individuum konstituiert. Neben Platons Höhlengleichnis bedient sich Gracián (wie vor ihm Campanella) am antiken Mythos der „Sonneninsel“, um gängige Inselreden und Descartes‘ Subjektphilosophie in Zusammenklang zu bringen. Nachdem er die Höhle verlassen hat, in der er seine Kindheit verbrachte, entdeckt Andrenio sein eigenes Ich im Angesicht der „einen Sonne“, die seine Insel ins Licht setzt. Über sein Sprachrohr Critilo befestigt der Autor diesen Akt der Selbstvergewisserung später mit der (unzutreffenden) etymologischen Ableitung des Adjektivs „solo“ (allein) aus „sol“ (Sonne) sowie der hinzukommenden „isola“ („Insel“ als etwas „Isoliertem“). Aus der Summe dieser Begriffe leitet er dasselbe unzweifelhafte Ich wie Rene Descartes ab: ein solitäres Individuum als Ausgangspunkt der weiteren Rede über das menschliche Wesen.

Wir lassen hier den weiteren Verlauf des Romans beiseite und halten lediglich diese Anfangskonstellation fest – vor allem deshalb, weil man sagen könnte, dass Daniel Defoe in seinem Robinson eine Art von populärer Summe aus Graciáns ausgreifender Allegorie auf das menschliche Wesen zieht. Nach seinen eigenen Worten verstand Defoe seinen Roman als „historisches“ und „allegorisches“ Beispiel für ein richtiges bürgerliches Leben. Der Dialog zwischen „ursprünglichem Ich“ und „kritischem Betrachter“ wird von ihm in einem Monolog zusammengelegt, bei dem in Gestalt von Robinson allein der „kritische“ Europäer das Wort führt – dessen „wilder“ Schüler Freitag verkörpert gleichsam den Restbestand des naiven Dialogpartners aus Graciáns philosophischem Roman. Der englische Erfolgsautor übersetzt das allegorische ausufernde Vorbild in eine leicht lesbare Story, mit der er vorführt, wie das bürgerliche Individuum es vermag, seine höchstpersönliche Insel aus eigener Kraft in einen zivilisierten Paradiesgarten zu verwandeln. Sein mit dem technischen Know-how der europäischen Hochkultur ausgestatteter Held beackert die Insel, an der er gestrandet ist, so lange, bis sie sich kaum mehr von einem bürgerlichen Haus mit Garten unterscheidet. Und führt damit mustergültig vor, wie die Figuren von Insel und Ich als Resultat der aufgeklärten und humanistischen Diskurse der europäischen Neuzeit in der Vorstellung eines privaten „Ich-Landes“ verschmelzen.

Die späteren Leser Defoes, insbesondere die mit Rousseau auf den Plan tretenden romantischen Interpreten, neigten dazu, ein entscheidendes Detail der Romanhandlung mehr und mehr zu unterschlagen: Tatsächlich ist es nämlich nicht nur sein bürgerliches Grundwissen, sondern auch die aus dem versunkenen Schiff geborgene technische Ausrüstung, die Robinson befähigt, sich als Beherrscher der Insel, auf der er gestrandet ist, zu inszenieren. Man ist geradezu an den „Zaubermantel“ von Shakespeares Inselheld Prospero erinnert: Hier wie da bedienen sich die Helden (bzw. Autoren) einer Art von Deus ex machina, um die Herrschaft des einzelnen Ego über seine Insel zu garantieren. Man könnte sagen: Im selben Maß, wie die legendären Inseln am Rand der Welt dem geographischen Wissen über die wirkliche Welt zum Opfer fallen, werden deren mythische Kapazitäten den „Ich-Ländern“ ihrer europäischen Eroberer zugeschlagen.

Ich komme zum Ende meiner Ausführungen, indem ich kurz auf die moderne Wendung dieser Neudefinition der Inselvorstellung eingehe, die sich seit Rousseau und der literarischen Romantik geltend macht und der wir unsere heutige „Inselsehnsucht“ erst eigentlich verdanken. Insbesondere die im Anschluss an die Südseereisen von Bougainville und Cook überbordende Tahitibegeisterung deutet darauf hin, dass die auf der einfachen Gleichung von „einzelnem Ich“ und „einsamer Insel“ basierte Ermächtigung des abendländischen Subjekts am Ende des 18. Jahrhunderts zunehmend an Überzeugungskraft verloren hat. An ihre Stelle tritt die Sehnsucht nach einem archaischen Anderen, dass es dem Einzelnen ermöglicht, sich von der ihm abverlangten Selbstinszenierung wieder zu erlösen. Die am Ende des 18. Jahrhunderts kursierenden Beschwörungen des paradiesischen Zustandes auf der entlegenen Südseeinsel mögen manchem Leser als unmittelbare Fortsetzung der literarischen Tradition „glückseliger“ und „utopischer“ Inseln erscheinen – doch übersieht diese (bis heute weit verbreitete) Lesart eine wesentliche Differenz: Geht es dabei doch um keine fiktionale, sondern eine nachweislich existente und potenziell für Jeden erreichbare Inselwelt. Was die europäische Tahitifaszination des ausgehenden 18. Jahrhunderts von allen literarischen Vorbildern unterscheidet, ist die sich abzeichnende Möglichkeit, diese Insel aufzusuchen und dort zu verweilen, wo nicht auf ihr zu bleiben!

Wie schon gesagt kündigen bereits die Romane und Bekenntnisse Jean-Jaques Rousseaus seit den 1760er Jahren einen neuartigen, (mit dem von Rousseau selbst geprägten Begriff:) „romantischen“ Diskurs über das menschliche Wesen und einen ebenso neuartigen Typus der Inselfaszination an. Rousseau war auch der erste, der den Rückzug auf eine einsame Insel – konkret die Peters-Insel im Bieler See – als Ausweg aus der dekadenten bürgerlichen Welt versuchsweise praktiziert hat. Uns fehlt hier die Zeit, Rousseaus Verklärung „einsamer Inseln“ und nicht zuletzt von Defoes „Robinson“ im Detail zu folgen und ich beschränke mich auf den wesentlichen Kern: In Rousseaus Augen (wie auch in denen der zeitgleichen Tahiti-Reisenden, unter denen einige bekennende Rousseauisten waren) verwandelt sich Robinsons Misere zum Ausweg, wo nicht zur einzigen Möglichkeit, dem falschen bürgerlichen Leben zu entfliehen. Rousseau verschiebt das Paradigma des „menschlichen Wesens“, wenn man so will, vom „kritischen“ Betrachter auf einen natürlichen Genius, der die Erinnerung an den ursprünglichen „Naturzustand“ aller Dinge bewahrt. Dabei stellt die Lesart der Insel als Kompensation eines im realen Leben unmöglichen Genießens nur einen Aspekt dar. Der andere, vielleicht noch wichtigere besteht darin, dass Rousseau auf diesem Weg die exotische Landschaft der Insel als Schauplatz einer Kommunikation mit der eigenen Vorstellungskraft entdeckt: als Ort, an dem sich schöpferische Phantasien einstellen und Träume in gewisser Weise real werden können. Nebenbei bemerkt hat die mit Rousseau einsetzende romantische Neuinterpretation des Robinson aus diesem weit eher einen Hayy ibn Yaqzān in der Tradition Avicennas und Ibn Tufails gemacht, der nur noch dem Namen nach an Defoes Romanhelden erinnert.

Als Fragment der ursprünglichen Natur spricht die Insel seit dem Ende des 18. Jahrhunderts ihrerseits zum Menschen – und zwar auf dem Weg der Reverie – jener sublimen „Träumerei“, die Rousseau auf der Petersinsel im Bieler See gesucht und gefunden und in seinen Bekenntnissen immer wieder hervorgehoben hat. Es war insbesondere dieser Aspekt von Rousseaus Inselfaszination, der den beginnenden romantischen Inseltourismus und zahlreiche weitere literarische „Bekenntnisse“ angeregt hat. Die von Rousseau während seines Aufenthalts auf der Petersinsel entdeckte „Reverie“ korrespondierte nicht zuletzt der idealistischen Kunstphilosophie Friedrich Wilhelm Joseph Schellings und deren Verständnis des schöpferischen Aktes als Begegnung zwischen einem empfindsamen Geist und einer sinnbildlich „sprechenden Natur“. Die von Schelling proklamierte neue „Odyssee des Geistes“ spielt mit der Vision eines „Landes der Phantasie“, wo sich die Geheimnisse der Natur enthüllen. An die Stelle eines von der übrigen Natur abgeschnittenen „Ich-Landes“ trat das Verlangen nach einem Ort der Begegnung, an dem sich das Ich aus der ihm von Descartes verordneten Isolation erlösen kann – ein Ort, den der Dichter Jean Paul in seinem Roman „Hesperus“ auf den schönen Namen einer „Insel der Vereinigung“ getauft hat. Man könnte so weit gehen zu sagen, dass es bis zum Ende des 18. Jahrhunderts zwar zahllose faszinierende – mythische oder literarische – Erzählungen über Inseln gegeben hat, aber nicht die moderne Insel selbst im Sinne eines exotischen Raumes der Selbsterfahrung jenseits der Gegenwart, der eine Verbindung zwischen eigener und allgemein menschlicher Natur zu stiften vermag. Dass auch die Insel Hiddensee ihren Anteil an diesem von Literatur, Tourismusprospekten und Unterhaltungsindustrie seither fortgeschriebenen Mythos hat, muss ich Ihnen nicht erzählen.