Birk Meinhardts „Abkehr“ als literarische Vermessung ostdeutscher Mentalität.
Von Volkmar Billig.
Seit Dirk Oschmann mit seinem Bestseller über „den Osten“ vor knapp zwei Jahren eine weit offene Tür eingetreten hat, überschlagen sich die medialen Erklärungsversuche, warum „die da drüben“ immer noch so anders ticken, als es nach westlichen Maßstäben „normal“ ist. Wiewohl die Rede von eben dort „blühenden Landschaften“ in Zeiten einstürzender Brücken und versagender Bahnverbindungen weitgehend verstummt ist, scheint ein bisschen ostdeutsche Dankbarkeit dabei nach wie vor der gouvernementalen Erwartung zu entsprechen – jedenfalls nicht, dass der einstige DDR-Bürger nach all den Investitionen in seine politische Bildung mit Vorliebe AFD wählt. Immerhin lassen die Debatten über „den Osten“ in jüngerer Zeit auch eine partielle Bereitschaft erkennen, sich zuzuhören, nachzufragen und womöglich zu lernen. Ob aus Interesse, Sorge oder beunruhigender Erinnerung, dass die da anno 1989 schon einmal ein Regime zum Teufel gejagt haben, mag dahingestellt sein. In jedem Fall muss es umso mehr überraschen, wenn ein aktuelles Buch, dass die sozialpsychologischen Untiefen dieser Problematik auslotet, überdies literarische Qualität hat und von einem gestandenen Autor mit ostdeutschen Wurzeln stammt, weder in den Buchhandlungen noch den Feuilletons der großen Zeitungen anlandet, sondern wie in seligen DDR-Zeiten ein Schattendasein als „Geheimtipp“ fristet.
Der Titel dieses Buchs ist „Abkehr“, die literarische Form ein fiktives „Hafttagebuch“ und der Autor kein geringerer als Birk Meinhardt, mehrfach preisgekrönter ehemaliger Reporter der Süddeutschen Zeitung, der mit seinem bei Hanser erschienenen Roman „Brüder und Schwestern“ 2013 auf der Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse stand. Um sein jüngstes Opus zu publizieren, sah er sich mangels Interesse bzw. Traute eines der etablierten Verlagshäuser zunächst einmal genötigt, einen eigenen Verlag mit dem schönen Namen „Vabanque“ zu gründen. Schon die Frage, warum sich ein Autor mit Bestsellerqualitäten (erinnert sei an Meinhardts 2020 erschienenen biographischen Essay „Wie ich meine Zeitung verlor“) auf dem aktuellen Buchmarkt einer Front editorischer Ignoranz gegenübersieht, ist nicht ganz einfach zu beantworten und führt geradewegs auf den Inhalt des Buches: Der Verfasser spielt darin – in bester Tradition des dystopischen Genres, das die moderne Literatur von Leopold Schefer bis Michel Houellebecq begleitet – die Vision einer totalitären Transformation der westlichen Gesellschaft durch. Worin sich die in „Abkehr“ dargebotene Version von der im öffentlichen Diskurs dominierenden unterscheidet, ist die Nuance, dass diese Tendenz nicht aus einem Putsch oder Wahlsieg „extremer Rechter“, sondern präzise aus der Fortsetzung der in den letzten Jahren zu beobachtenden Normalisierungen resultiert. Dass Meinhardt dabei kein Blatt vor den Mund nimmt, liegt im Selbstverständnis seines Schriftstellerberufs. Und wenn er ausgerechnet mit diesem Selbstverständnis an ein mediales Tabu rührt, darf man das wohl als Zeichen nehmen, dass er den Finger in eine schwelende Wunde legt.
Um ein naheliegendes Missverständnis auszuschließen: „Abkehr“ ist kein politisches Pamphlet, mit dem der Autor sein „Coming out“ als Dissident und seine Ankunft im wachsenden Flügel einst gefeierter, heute ungeliebter Schriftsteller aus dem Osten feiert, sondern ein echter Pageturner. Zunächst einmal riskiert Birk Meinhardt schon mit dem Plot seines Buches etwas, wofür ich kein literarisches Vorbild kenne: nämlich eine Dystopie, die nur wenige Jahre in der Zukunft spielt. In Anlehnung an den Namen des Verlages könnte man von einem literarischen „Vabanque-Spiel“ sprechen – wird man seine „Fiktion“ doch schon in Kürze an den sich tatsächlich einstellenden gesellschaftlichen Realitäten messen können. Dass Meinhardt sich dieses Wagnis leisten kann, hat nichts mit hellseherischen Ambitionen, sondern vielmehr mit Stilsicherheit und einem Gespür für sich anbahnende gesellschaftliche Veränderungen zu tun, dank dem sein Text die Grenze zwischen Realität und Fiktion immer wieder mühelos überschreitet. Der Rahmen der Handlung lautet in gebotener Kürze wie folgt:
Nach einer an unsere Gegenwart unmittelbar anschließenden Phase politischer und juristischer „Nachschärfungen“, etwa des Tatbestands der „Delegitimierung des Staates“, wird der Held der Geschichte, ein Mann mit ostdeutscher Vergangenheit – vormaliger Werbemakler und Trauerredner sowie Mitglied eines literarischen Zirkels –, durch einige erratische Performances mit einer Gesichtsmaske auffällig und gerät folgerichtig in Untersuchungshaft. Das von ihm dort in Angriff genommene „Hafttagebuch“ liefert im ersten Teil eine an diverse Meisterwerke des literarischen Realismus gemahnende Milieustudie über die Umstände eines heutigen Gefängnisaufenthalts. Über die Ausführlichkeit und formale Notwendigkeit dieser Schilderungen lässt sich dennoch streiten, weil sie den Leser mit ihrem schroffen Realismus auf eine sich in der Folge weitgehend verlierende Spur führt. Indes überschneiden sich die Reflexionen des Gefängnisalltags von Anfang an mit einer profunden Nachfrage nach dem historischen Geschehen, das den Helden in seine aktuelle Situation geführt hat. Mit seinen Bohrungen im eigenen und kulturellen Gedächtnis fördert Meinhardt dabei eine Vielzahl sinnbildlicher und brillant skizzierter Szenen zutage, die mir beim Lesen zuweilen wie Spiegelbilder meiner eigenen Erinnerungen vorkamen (etwa die Eindrücke von der Berliner Großdemonstration am 4. November 1989 oder eine Szene auf dem Rostocker Hauptbahnhof während der Migrationskrise von 2015). Nicht zuletzt gibt Meinhardt den subtilen (und oft genug verdrängten) Demütigungen eine Sprache, die Ostdeutsche insbesondere in den 1990er Jahren im Alltag erfahren haben, etwa wenn er auf die Heerscharen von Vorruheständlern zu sprechen kommt, die nach der Entbindung von gesellschaftlicher Funktion und beruflicher Tätigkeit ihre Lebenszeit als Passagiere erschwinglicher Busausflüge hingebracht haben.
Auch das Empfinden von zahlreichen Ostdeutschen (darunter solchen, die die „friedliche Revolution“ von 1989 aktiv mitgestaltet haben), dass sich nämlich die Geschichte wiederholt und in die überwunden geglaubte staatliche Willkür mündet, hat Meinhardt so präzise wie vielleicht keiner vor ihm beschrieben. Dabei kommt seinem Prosastil zugute, dass er sich auf das ganze Register menschlicher Gefühlslagen von Momenten der Resignation bis zu solchen aufwallenden Lebensmutes versteht. Scheint in mancher Passage ein Abschied von allen übrigen Illusionen anzuklingen, so in der nächsten der ungebrochene Wille, an die alten Ideale anzuknüpfen und womöglich noch einmal den Aufstand zu wagen: „Der Punkt ist, ihr, die ihr die Werte der Demokratie ständig im Mund führt, nehmt sie nicht ernst. Der Osten nimmt sie ernster. Errungenschaft heißt, man hat etwas errungen, das fehlt euch.“
Ich vermag nicht mit Sicherheit zu sagen, ob es zuerst dem mitreißendem Schreibstil oder meiner eigenen ostdeutschen Prägung und Erfahrung geschuldet gewesen ist, dass mich Meinhardts Text wie schon lange keiner eines deutschsprachigen Autors gefesselt hat. Vermutlich spielen beide Aspekte ineinander. Überdies hat mich die Lektüre an eine Passage aus Ernst Jüngers Essay „Der Waldgang“ erinnert, wo es heißt: „Der höhere Rhythmus der Geschichte kann überhaupt dahin gedeutet werden, daß der Mensch sich periodisch wiederentdeckt. Immer sind Mächte, die ihn maskieren wollen, bald totemistische, bald magische, bald technische. Dann wächst die Starre und mit ihr die Furcht. Die Künste versteinern, das Dogma wird absolut. Doch seit den frühesten Zeiten wiederholt sich das Schauspiel, daß der Mensch die Maske abnimmt, und dem folgt Heiterkeit, wie sie der Abglanz der Freiheit ist.“
Ich weiß nicht, ob Meinhardt diese Bemerkung Jüngers kennt und womöglich mit im Kopf hatte, als er den Helden seines Buches durch Auftritte mit einer (kompletten, nicht medizinischen) Gesichtsmaske ins Visier der Ordnungsmacht geraten ließ. Aber nicht auszuschließen, dass sein neues Buch irgendwann als literarischer Vorbote eines solchen Schauspiels der Demaskierung gelten wird.
Birk Meinhardt
Abkehr. Ein Hafttagebuch
Vabanque Verlag
ISBN 978-3-00-079483-4
22 €