Kategorien
Bargespräch Blog

#4: Vivianne Vogé über Stricken und Verstrickungen, Fortgehen und Ankommen, Heimat- und Glücksgefühle sowie Rügen und Gotland

Dahlmanns Bazar: Der von Vivianne Vogé betriebene Concept Store calling sheep mit allen denkbaren Schafprodukten profilierte sich in den letzten Jahren zu einem der außergewöhnlichsten und viel besuchten Geschäfte in unserer unmittelbaren Nachbarschaft am alten Markt in Sassnitz. Vivianne Vogé selbst hat es unterdessen weiter auf die schwedische Insel Gotland gezogen, geblieben ist eine große Zahl begeisterter Strickerinnen in Sassnitz und seiner Umgebung, die sie mit ihren Workshops und Angeboten animiert hat und denen man nicht zuletzt in unserem Café weiterhin begegnet. Vor ihrer Abreise wollten wir von Vivianne Vogé u.a. wissen, aus welchen Gründen in den letzten Jahren ausgerechnet die uralte und traditionell weibliche Beschäftigung des Strickens eine derartige Renaissance erfahren hat.

Vivianne Vogé: Zunächst einmal muss ich sagen: Es stricken auch Männer. Viele Männer, auch aus meiner Generation und insbesondere in Österreich, haben in der Schule noch das Stricken gelernt und praktizieren das immer noch. Ich hatte auch männliche Kunden im Laden, die Wolle für sich selbst gekauft haben. Sie zeigen sich nur nicht so öffentlich. Es gibt mittlerweile auch Männer als „Strick-fluencer“, die sehr gefragt sind, schon deswegen, weil sie in der Unterzahl sind. Es handelt sich also um kein klassisches und ausschließliches Frauenthema. Ich habe das Stricken daher auch nie von dieser Seite betrachtet und war eher überrascht, als ich vor vielleicht eineinhalb Jahren auf einen kritischen Flyer irgendeiner deutschen Partei gestoßen bin, in dem das Thema dazu diente, um strickende Menschen in eine rechte Ecke zu drücken – wo also dieser Bezug zu Geschlechterrollen im Sinne von einem Zurück zum Ursprünglichen und zu den Traditionen benutzt wurde, um eine politische Botschaft damit zu verbinden. Das hat mich sehr befremdet und ich habe mich darüber auch mit Strickfreundinnen ausgetauscht, mit dem Ergebnis, dass so etwas bis dahin in der Szene nicht bekannt war. Für mich hat das Thema mit Politik nichts zu tun. Im Endeffekt stricken Menschen aus ganz verschiedenen Gründen: A) hat es einen sehr beruhigenden Effekt auf die Gehirnhälften, weil die Nutzung beider Hände gleichzeitig und das Fixieren der Augen darauf die Hirnhälften balanciert und ausgleicht. Deswegen ist es so entspannend. Es ist in vielen Studien nachgewiesen, dass Stricken auf eine subtile Weise beruhigend wirkt und auch gegen Depressionen hilft. Ich glaube, dass das auch einer der Suchtfaktoren ist: dass du merkst, es tut dir gut. Nicht, weil du diesen bestimmten Pulli strickst oder etwas Neues kreierst (was auch ein Suchtfaktor sein kann, weil es einfach schön ist, etwas Neues zu produzieren) – aber was die meisten danach süchtig werden lässt, ist diese subtile Wirkung auf Körper und Gehirn.

Also kann man nach Stricken süchtig werden?

Es gibt hauptsächlich süchtige Strickerinnen. Ich kenne kaum eine, die nicht süchtig danach ist. Es gibt im Englischen den Spruch „When I sit – I knit“, also: „Wenn ich sitze, dann stricke ich.“ Will sagen: Warum soll ich sitzen, ohne es zu tun, wenn ich doch währenddessen stricken kann?

Seit wann praktizierst du das?

Ich hatte in der Schule in der Schweiz jede Woche mindestens zwei Stunden Handarbeitsunterricht bei einer Nonne und dort habe ich das Stricken in der ersten Klasse gelernt. Wir haben alles gelernt: Stricken, Häkeln, Nähen – und ich habe das alles sehr gern gemacht und erinnere mich auch, dass ich von Anfang an sehr gern gestrickt habe. Über die Teenie-Zeit habe ich es dann erstmal gelassen, aber dann war ich sehr früh schwanger. Zu dieser Zeit stand ich als Sängerin auf der Bühne, und das ging, als man die Schwangerschaft gesehen hat, nicht mehr. Um aber noch meine Abendgage zu bekommen, habe ich auf der Seitenbühne den Chor mitgesungen. Und da hat mich eine Tänzerin aus England gefragt: Kannst du stricken? Und ich habe gesagt: Ja, eigentlich kann ich stricken. Und da hat sie gesagt: Dann strick doch in der Zeit ein paar Babysachen. Sie brachte ein paar Strickzeitschriften aus England mit, und wir fingen an, in der Blackbox zusammen zu stricken. Ich habe damals die gesamte Baby-Kollektion dort produziert, und seither bin ich süchtig.

Und gab es damals vor zwanzig Jahren, auch schon ein derart breites Interesse am Stricken?

Nein. Damals waren wir damit relativ allein. Dass das so um sich gegriffen hat, geschah meines Erachtens mit der Ausbreitung des Internets, wo eine Plattform aufkam, die es heute immer noch gibt. Dort findet man gefühlt alle Strickanleitungen und Informationen zu weltweit verfügbaren Garnen. Es gibt Foren zu allen möglichen Themen mit Designern und vieles andere mehr. Über diese globale Plattform und den Zugang dazu bemerkte man irgendwann, dass man damit nicht allein ist, sondern es viele Leute gibt – auch junge Leute –, die das machen. Dann kam Corona und hat das nochmal gepusht, indem viele junge Leute über Youtube stricken gelernt haben, die jetzt einfach angefixt sind. Wenn du es einmal kannst und lieben lernst, möchtest du es nicht mehr missen. Ich selbst habe schon vor der Corona-Zeit versucht, Kreativ-Retreats anzubieten. Eins hat in einem wunderschönen alten Haus in den Tiroler Bergen stattgefunden. Dort haben wir eine Woche lang mit Schafen verbracht, Wolle gefärbt, die Spinnerei im Tal besucht, uns mit Wolle umgeben und eine richtig gute Strickzeit gehabt.

Das heißt, deine eigene Lust am Stricken hat sich über diese Internetplattform gewissermaßen gespiegelt und bestätigt. War damit auch schon bald die Idee verbunden, daraus ein Geschäftsmodell zu machen?

Nein, nicht sofort. Ich habe irgendwann selber an so einem Retreat teilgenommen, den ein populäres finnisches Strickmagazin veranstaltet hat. Die haben damals einmal im Jahr so einen Retreat angeboten, vier Tage, sehr teuer, immer an einem anderen schönen Ort der Welt, und immer mit einer sehr bekannten Strickdesignerin dabei, die das Publikum gezogen hat. Man hat dort einen Zwei-Stunden-Workshop gehabt und ansonsten einfach Strickzeit mit vielen Leuten. Und dort ist mir bewusst geworden, dass dieses gemeinsame Stricken so unfassbar guttut. Das man eben nicht allein auf dem Sofa hockt, sondern das in einer Gruppe macht. So wie schon früher in den Küchen und bei jeder öffentlichen Versammlung, bei der Frauen zusammenkamen, gestrickt wurde. Man lernt nicht nur etwas, sondern kommt auch mit Menschen in Kontakt, die man sonst niemals kennenlernen würde. Und da habe ich gedacht, dass es doch eigentlich ein Geschäftsmodell wäre, solche Retreats zu veranstalten und den Menschen derart eine richtig gute Zeit und die Möglichkeit „herunterzukommen“ zu geben.

Womit wir auf Umwegen und jenseits vermeintlicher Geschlechterrollen doch noch einmal auf die traditionell weibliche Konnotation des Strickens zurückgekommen sind – die ja auch mit dem ganz praktischen Umstand zu tun hat, dass man zum Stricken in irgendeiner Küche oder anderswo sitzen muss, während es etwa bei der Jagd und anderen Tätigkeit schlecht geht.

Es gibt auch Leute, die im Gehen stricken können.

Das stimmt. Ich selbst habe es auf der Insel Taquile im Titicaca-See gesehen, wo es im Übrigen tatsächlich Männer sind, die einem überall entgegenkommen und im Gehen stricken. Was nach meinen Beobachtungen aber eher eine Ausnahme ist. Nicht zuletzt in den weltweiten Mythen, die sich um Tätigkeiten wie das Spinnen und Stricken ranken, spielen weibliche Figuren – ob in Gestalt von Schicksalsgöttinnen wie den Nornen oder mediterranen Halbgöttinen wie Kirke oder anderen Nymphen und Feen – eine vorrangige Rolle. Auch die übertragene Bedeutung des Begriffes „verstricken“ – nicht im Sinne, von „Garn verbrauchen“ oder „falsch stricken“, sondern von „verfallen“ und „verführen“ – ist im Sprachgebrauch eher mit weiblichen Akteurinnen verbunden. Wobei sich fragen ließe, woher dieser auch in der romantischen Literatur gern aufgegriffene Topos, der „männlichen Verstrickung in weibliche Netze“ eigentlich kommt. Gibt es dafür eine erotische oder psychologische Erklärung oder handelt es sich um eine schlichte Männerphantasie? Hast du dazu eine Idee?

Gute Frage. Ich habe das noch nie so betrachtet, finde den Gedanken, dass das Stricken etwas Dominantes, Steuerndes im Sinne von Machtausübung hat, aber sehr schön. Zunächst einmal hat eine strickende Frau ja nichts unmittelbar Erotisches an sich, sondern wird aus gesellschaftlicher Perspektive eher mit älteren Frauen in Verbindung gebracht. Wahrscheinlich werden viele Männer eine strickende Frau auch eher abtörnend empfinden. Andererseits: Lässt sich nicht jeder Mann gern „verstricken“? Genießen es nicht Männer, auch wenn sie sonst sehr dominant auftreten, selbst einmal dominiert zu werden? Und wenn man es ganz praktisch betrachtet: Ich habe auch noch keinen Mann kennengelernt, der nichts Gestricktes haben wollte. Sie haben sich eigentlich immer darüber gefreut. Es ist ja auch ein Liebesbeweis, wenn man daran denkt, wieviel Zeit es kostet, vor allem, je größer und umfänglicher ein Mann ist.

Es mag ja auch mit der frühkindlichen Beziehung zur eigenen Mutter zu tun haben, die ihr Kind gewissermaßen mit all den von ihr gestrickten Sachen auch „einspinnt“ und aus deren Be- oder Verstrickung man sich zunächst einmal befreien muss, wenn man als junger Mann aus dem Haus geht…

Man sagt übrigens, wie mir jetzt einfällt, wenn man etwas für jemand Anderen strickt: man „bestrickt“ ihn.

Um von den metaphorischen Verstrickungen noch einmal auf Deine Biographie zurückzukommen: Mir fällt auf, dass die Hinwendung zum Stricken, auch in beruflicher Hinsicht, offenbar ziemlich unmittelbar mit deinem Umzug auf die Insel Rügen zusammenfällt. Gibt es einen Zusammenhang zwischen diesem speziellen Ort und der Blickwendung auf Wolle und Stricken?

Als ich nach Rügen kam, war ich zunächst einmal angestellt. Als ich dann aber nicht mehr angestellt war, habe ich überlegt: Was könnte hier funktionieren, wovon habe ich Ahnung? Und alles in einen Topf geworfen – die Liebe zu den nordischen Schafen, zur Wolle und dem, was man draus machen kann – ist das in der Gründung von calling sheep geendet. Auch mit der Idee, das Thema aus der Oma-Nische holen zu wollen, was mir ganz wichtig war. Ich wollte gerade nicht einen weiteren „Hofladen“ eröffnen. Es gibt natürlich schöne Hofladen-Produkte, aber oft sind sie ziemlich altbacken und ohne Stil. Andererseits gibt es auch stilvolle, exquisite Sachen. Und das war mir wichtig, die Schafprodukte aus dieser verstaubten Ecke rauszuholen und zu zeigen, dass sie nicht nur zweckgebunden, sondern auch schön und stilvoll sein können.

Nun bist du ja schon wieder im Aufbruch auf die nächste, noch weiter nördliche Insel, nämlich nach Gotland begriffen – zunächst einmal: Offenbar hat dich dein Lebensweg, der in der Schweiz beginnt, wo du deine Kindheit verbracht hast, mit einiger Zielsicherheit nach Norden und zuletzt auf die Ostseeinseln geführt. Ist das eher zufällig oder spinnt sich hier auch ein Faden bzw. folgst du einem Ruf, den man schicksalhaft nennen könnte?

Aus der Schweiz bin ich damals mit 18 eher geflüchtet. Ich hatte eine schwierige Kindheit hinter mir und wollte ganz weit weg. Ich wollte auf die großen Bühnen der Welt, was in der Schweiz nicht möglich war, und bin zunächst einmal nach Hamburg gegangen. Ich habe dort eine Ausbildung gemacht, habe tatsächlich auf Bühnen gestanden, bin Mutter geworden. Schon durch meinen Job als Sängerin bin ich mehrmals umgezogen, später auch privat bedingt. Ich fühlte mich immer auf der Suche und in gewisser Weise getrieben und von neuen Dingen angezogen, in der Hoffnung irgendwo anzukommen, ohne jedoch zu wissen, wonach ich suchte. Dass es dabei nach Norden ging, war vorrangig Zufall. Aber als ich nach Rügen kam, spürte ich, wie wichtig das Leben am Meer für mich ist. Diese Weite und dieser Ausblick gaben mir das Gefühl, angekommen zu sein. Aber nun zieht es mich doch weiter und das entspringt eher einem Bauchgefühl. Mittlerweile glaube ich, dass dieser Wunsch anzukommen, Wurzeln zu schlagen, nicht wieder weg zu gehen, vielleicht utopisch und auch nicht für jeden gemacht ist. Vielleicht hatte ich ihn auch nur, weil ich noch nicht hundertprozentig in mir angekommen war. Aber jetzt verändert sich das gerade und ich habe akzeptiert, dass es egal ist, wo ich bin, und egal, wie oft ich noch umziehe, denn die Hauptsache ist, dass es mir gut geht. Und ich bin der Meinung, dass man sich das Umfeld schaffen muss, damit es einem gut geht. Und wenn das nicht mehr gegeben ist, muss man das ändern. Ich habe nicht mehr den Anspruch, dass der nächste Ort jetzt der Ort sein muss, das heißt, mir dort ein Haus zu kaufen, einen Kerl zu finden, mir was weiß ich aufzubauen. Ich schaue mir das an, und wenn es stimmt, dann bleibe ich, und wenn es nicht mehr stimmt, dann gehe ich weiter.

Könnte man sagen, dass da zwei Seelen in deiner Brust schlagen, die eine im Sinne des Wunsches anzukommen, die eigene Insel in Besitz zu nehmen, und die andere im Sinne des Wunsches immer weiterzuziehen?

Ich muss nicht immer weiterziehen, aber ich habe jetzt akzeptiert, dass es für mich nicht zwingend darum geht, irgendwo anzukommen, sondern dass ich mich wohlfühlen will. Vielleicht passiert das Ankommen ja dann ganz von alleine. Bisher bin ich mit dem Anspruch losgezogen, dass ich meine Heimat finden möchte – einen Ort, wo ich bleiben und Wurzeln schlagen will. Durch meine Entwicklung in den letzten Jahren hat sich das aber verändert, weil ich in mir jetzt so zufrieden bin, dass es mir nur noch um mein Wohlergehen geht. Und das schaffe ich mir durch ein entsprechendes Umfeld, durch die Menschen, mit denen ich zu tun habe und die Art und Weise, wie ich mein Leben und meinen Alltag gestalte. Ich glaube, diese Heimatsuche hat viel mehr mit einer inneren, nicht äußeren Heimat zu tun. Und auch wenn ich am Anfang aus meiner ursprünglichen Heimat geflüchtet bin, hat es mich doch auf diesen Weg gebracht. Mit jedem Umzug lernt man auch etwas.

Bis vor einigen Jahrzehnten hätten vermutlich die meisten auf die Frage nach ihrer Heimat die Antwort gegeben: Das ist der Ort, wo ich geboren bin, zu sprechen begonnen, meine Kindheit verbracht habe. Heute fällt es offenbar vielen immer schwerer, sich mit einem solchen Begriff von „Heimat“ zu identifizieren, und nicht selten fallen wie bei dir die Flucht aus dem Herkunftsort und die damit beginnende Suche nach einer Art von „Ersatzheimat“ zusammen.

Für mich ist Heimat eher ein Gefühl. Das ist ähnlich wie mit dem Begriff der Familie. Familie meint auf der einen Seite die Ursprungsfamilie – Eltern, Geschwister, Onkel, Tanten. Aber wenn sich das für dich nicht wie deine Familie anfühlt, dann suchst du dir deine eigene Familie. Das sind dann gute Freunde, Menschen, die auf Augenhöhe mit dir umgehen, die dir einen geschützten Raum bieten, wenn du ihn brauchst, die da sind. Mein Bruder sagt immer: Wir sind doch eine Familie. Da antworte ich: Ja, genetisch betrachtet sind wir eine Familie, aber emotional hat es für mich oft nicht viel damit zu tun. Und so ist es auch mit der Heimat: Das Gefühl ist für viele gar nicht an den Ort ihrer Herkunft angekoppelt. Das sucht man sich woanders.

Kann man dieses „Heimatgefühl“ beschreiben bzw. woran erkennt man seine „Heimat“, wenn man dort angekommen ist? Ich erinnere mich, dass in Kafkas Roman Das Schloss irgendwo der Begriff „Heimatluft“ steht – da weht dem Helden in weiter Ferne und zwischen Kneipengerüchen und Bierlachen plötzlich etwas um die Nase, das er mit „Heimat“ assoziiert.

Ich habe bei meiner Ankunft auf Rügen etwas Ähnliches empfunden. Wie oft habe ich da gehockt und in die Natur gestarrt und tief geseufzt! Das war ein Gefühl von Ankommen und Loslassen: Hier kann ich mich entspannen, hier bin ich sicher, hier fühle ich mich wohl. Hier bin ich geborgen, wie Du es vorhin am Beispiel des bestrickten Babys gesagt hast.

Aber dieses Gefühl scheint sich ja in gewisser Weise verflüchtigt zu haben, wenn du jetzt den Wunsch hast, auf die nächste Insel weiterzuziehen.

Teilweise. Auf der anderen Insel seufze ich noch ein bisschen mehr. Leben ist Veränderung, wenn man sich selbst verändert, verändern sich auch die Umstände.

Und die Geborgenheit, von der du gesprochen hast? Worin besteht sie? Hat sie mit Natur zu tun, mit der eigenen Beschäftigung oder den Menschen, die man an einem bestimmten Ort trifft? Und woher nimmt man die Gewissheit, dass man überhaupt eine solche Geborgenheit finden und wahrhaft ankommen könnte? Trägt man womöglich eine Art Bild des Ortes in sich, an dem man ankommen will?

Ein Bild davon hatte ich nie. Es war immer nur ein Gefühl. Für mich hat es viel mit den Menschen zu tun, die ich kennenlerne. Mittlerweile auch mit der Natur, gerade hier auf Jasmund – das war aber nicht immer so. Zuerst waren es immer die Menschen. Dort wo ich meine „Familie“ finde, fühle ich mich geborgen. Ganz abgeschieden in Einsamkeit macht es wahrscheinlich niemand lange. Aber auch die Natur bewirkt viel: Was habe ich mich hier entwickelt, indem ich einfach im Wald herumgelaufen bin oder aufs Wasser gestarrt habe! Das hat in meinen Augen auch viel mit Energie zu tun, die man zulässt und wirken lässt. Und da hat Gotland noch andere Energien und das reizt mich im Moment noch mehr.

Was ist dort, was dich reizt und was es auf Rügen nicht gibt?

Mehr Ruhe. Es ist nicht so überlaufen. Auch eine gewisse Gemütsruhe. Und eine Energie, die noch einmal ganz anders ist.

Hast du keine Angst vor der Abgeschiedenheit – davor, dass diese sich auch im Gefühl von Einsamkeit niederschlagen könnte?

Natürlich. Gerade am Anfang! Es hängt ja auch noch das Thema der anderen Sprache dran. Und ich glaube, gerade am Anfang, wenn du dich noch nicht mit jedem in seiner Sprache unterhalten kannst – und in einer wirklichen Tiefe auch noch länger nicht unterhalten kannst, dann kann das sehr wohl in Einsamkeit umschlagen. Davor habe ich auch Respekt. Aber ich denke, dass das trotzdem zu händeln ist. Erstens gibt es auf der Insel eine sehr belebte Stadt. Dort kann man hingehen. Da trifft man Leute. Ich habe dort schon zwei Freundinnen. Und die Leute sprechen auch noch alle englisch. Und außerdem: Auch die einsamen Phasen bringen einen weiter. Man muss sie zulassen.

Wann hast du zum ersten Mal gespürt, dass ausgerechnet Gotland ein Ort sein könnte, der für dich passt?

Eigentlich schon bei meinem ersten Urlaub dort. Da habe ich allein zehn Tage auf Gotland verbracht und zwar im Winter, im November. Ich habe die Insel erkundet und ganz unerwartet mehrere nette Bekanntschaften gemacht. Schon damals habe ich gedacht, das wäre auch eine Option, wenn es mir mal auf Rügen nicht mehr gefällt. Aber ich konnte das nicht benennen, es war einfach ein Gefühl. Dann habe ich im letzten Jahr viel drüber nachgedacht, ob ich auf Rügen bleibe oder nicht, wie sich die Insel entwickelt und ob mir das gefällt. Und ich habe immer mal wieder an Gotland gedacht und eher wegen der Sprache gezögert. Aber dann war ich im Juni diesen Jahres wieder dort, und ich war keine Stunde auf der Insel, da hat mein Bauch wild um sich geschlagen und mir wurde klar: Das Thema ist noch nicht erledigt.

Nun sind schon auf Rügen im Winter die Nächte lang und die Dunkelheit kann einem zu schaffen machen, dennoch zieht es dich noch weiter in den Norden…?

Ich mag das Raue, ich mag diese Weite, ich mag die Klarheit in der Luft. Ich mag auch Schnee im Winter und liebe es, den Winter im Haus zu verbringen, Kerzen anzuzünden, Tee aufzubrühen, am Kaminfeuer zu hocken und zu stricken. Es gibt doch keine bessere Ausrede, um stricken zu können. Das ist die beste Jahreszeit dafür. Man hat ja eine Beschäftigung als Strickerin. Vielleicht stricken auch deswegen so viele nordische Leute, weil sie so die Depression verhindern können – da habe ich noch gar nicht darüber nachgedacht.

Womöglich ist das ja auch der Grund, warum es in den skandinavischen Ländern so viele Dichter gibt. Man ist sich selbst genug und macht etwas draus …

Ja, aber es gibt natürlich auch den Aspekt des Gemeinsamen: sich am großen Küchentisch zu versammeln, miteinander Tee zu trinken und zu stricken. Man kann es auch allein tun – man kann beides! Das ist das Schöne.

Und man ist bei dieser Art von geselligem Zusammensein nicht gezwungen, fortwährend Gespräche zu führen…?

Man kann einfach zusammen sitzen und stricken und nichts als die Nadeln klappern hören. Das ist sehr schön und hat etwas unglaublich Beruhigendes. Wenn du dich ohne Strickzeug triffst und es entsteht eine Redepause – was machst du dann? Da starrst du vor dich hin. So sind die Hände beschäftigt, und du kannst auch mit Leuten zusammensitzen, die du nicht so gut kennst. Ich habe auf diese Weise eine meiner besten Freundinnen hier kennengelernt. Sie hat an einer Veranstaltung teilgenommen, als ich den Laden gerade gegründet hatte. Wir mochten uns und ich habe sie dann einmal besucht und da haben wir uns so verquatscht und ich bin viel zu spät weggekommen, worauf wir gedacht haben: Wir müssen das öfter machen. Und dann haben wir angefangen, uns einmal im Monat an einem Sonntag zu treffen – morgens um 11, in einem Café oder anderswo und einfach gemeinsam zu stricken. Und über diese Treffen ist daraus eine tiefe, wertvolle Freundschaft geworden. So kann man sich auch annähern.

Das klingt beinahe, als hätte das Stricken einen magischen Aspekt: Man kann es an jedem Ort der Welt tun und beschwört dadurch eine bestimmte Atmosphäre und erschafft ein Zuhause?

Ja. Wo man zusammensitzt, erschafft man über diesen gemeinsamen Aspekt einen besonderen Raum, eine Art Zuhause. Ich habe das mal in einem Posting beschrieben – es ist wie Magie: Erstens entsteht ein Kleidungsstück und du hast selbst in der Hand, wie es wird, es entsteht mit jeder Masche. Gleichzeitig heilt dein Inneres. Du beruhigst dich und klärst deine Gedanken. Das ist wie Zaubernkönnen.

Ich erlebe etwas Ähnliches beim Waldspaziergang: dass ich ein Gefühl habe wie schon vor fünfzig Jahren, wenn ich im Wald unterwegs war. Und dass ich zugleich in der Vergangenheit, in der Gegenwart und in der Zukunft unterwegs bin. Wie eine Kommunikation über die Zeit hinweg, etwas Uraltes, Elementares. Und dass das die Heimat ist, die man immer wieder unvermittelt antrifft.

Wie ich vorhin gesagt habe: Es ist kein Ort, sondern ein Gefühl! Und noch etwas: Was auch immer geschehen mag, wenn z.B. ein Krieg ausbricht – meine Kleidung kann ich mir selbst herstellen. Das ist etwas sehr Befriedigendes: zu wissen, dass ich niemals frieren werde.

Wobei einem das in unserem postindustriellen Zeitalter auch schnell als konservativ und fortschrittsfeindlich ausgelegt werden kann, zumal, wenn man sich dabei auf Gefühle beruft.

Der Staatsfeind Nummer 1: Gefühle! Aber ist es nicht genau das, was uns dabei so befriedigt? Und sind wir nicht als Menschen von dort aus gestartet? Wir haben uns um unsere unmittelbaren Bedürfnisse gekümmert. Wir haben uns um unser Essen gekümmert, haben Land bestellt, Brot gebacken, Kleidung hergestellt, Boote selber gebaut – je nachdem, was wir brauchten. Jetzt wird uns vieles abgenommen, aber die innere Befriedigung kommt nun mal über die Arbeit mit den Händen. Und wenn du dann noch etwas Essentielles für dich schaffst, ist das noch auf einer weiteren Ebene befriedigend. Das löst Glücksgefühle aus. Warum sollten wir das abgeben und stattdessen kaufen? Deswegen ist auch dieser Do it yourself-Trend so groß: Die Leute wollen wieder etwas selber machen, mit ihren eigenen Händen, eben weil sie sich gut fühlen wollen. Auch wenn sie es billiger kaufen und Zeit sparen könnten – sie wollen es selber machen! Und so ist das auch mit dem Stricken: Es sind Grundbedürfnisse, die da befriedigt werden – ob es das Kleidungsstück ist, das einen anschließend warm hält, oder der Prozess des Herstellens.

Man kann sich Heimat oder Geborgenheit eben nicht im Warenhaus kaufen, sondern man erschafft diese, in dem man bestimmte Tätigkeiten verrichtet, z.B. strickt, gärtnert usw. Offenbar hat dieser aktuelle Trend auch mit einem wachsenden Gefühl des Verlustes zu tun: Die Menschen spüren, dass sie ohne eine solche Tätigkeit schwerlich glücklich sein können.

Ja. Daher auch das Suchtpotential, weil es einfach gut tut.

Immerhin eine Sucht, bei der mehr herauskommt als der Kater am nächsten Morgen. Glaubst Du, dass es auch auf gesellschaftlicher Ebene möglich ist, den Schritt aus der heutigen Welt des Konsums in eine Welt des eigenen Tätigseins zu machen? Ist das ein immer noch aktivierbares Potential des Menschen, eine Chance für eine gesellschaftliche Transformation oder eher eine nachwirkende Sentimentalität?

Eine Teilnehmerin unserer Stricktreffen hat mal gesagt: Es wäre mehr Frieden auf der Welt, wenn alle Menschen stricken würden. Weil es eine positive Grundstimmung auslöst, die eher ein Miteinander als ein Gegeneinander schafft und wo etwas entsteht, nicht zerstört wird. Wenn jeder Mensch eine solche Beschäftigung hätte wie das Stricken, dann könnte dies tatsächlich eine gesellschaftliche Transformation bewirken.

__________________________________________________________

Vivianne Vogé, geboren in der Schweiz und seit 2019 auf der Insel Rügen lebend, gründete 2022 ihr Geschäft calling sheep am Alten Markt in Sassnitz. Zudem verarbeitet sie Mönchguter Schafwolle zu eigenem Strickgarn. 2023 erhielt sie den Existenzgründerpreis der Ostsee-Zeitung. Seit Herbst 2024 lebt sie auf Gotland. In ihrem Webshop unter www.callingsheep.com können ihre Produkte nach wie vor online bezogen werden.