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#2: Hanna Mittelstädt über Emma Goldman, widerständiges Leben, das Reden über Liebe und das Engagement gegen Krieg

Dahlmanns Bazar: Die Anarchistin, Friedensaktivistin und feministische Vorkämpferin Emma Goldman (1869–1940) und die 1951 geborene Autorin, politische Aktivistin und frühere Verlegerin der Hamburger Edition Nautilus Hanna Mittelstädt stehen sich in Persönlichkeit und Charakter ebenso wie in ihren politischen Grundüberzeugungen nahe. So verwundert es nicht, dass Hanna Mittelstädt 2010 eine opulente deutsche Neuausgabe der Autobiographie von Emma Goldman auf den Weg gebracht hat und bis heute die Erinnerung an sie mit Vorträgen und Lesungen wach hält. Gerade hat sie einen Essay unter dem Titel Emma Goldman – ein widerständiges Leben verfasst, Anlass für uns, mit ihr über die legendäre „rote Emma“ und die Aktualität ihres Lebens und Werks zu sprechen.

Hanna Mittelstädt: Um es kurz einzuführen: Emma Goldman ist 1869 geboren und 1940 gestorben. Das ist eine ganze Weile her, aber trotzdem hat sie interessanterweise eine intime Aktualität, weil sie so vieles auf einmal war: Sie war Feministin, sie war Friedensaktivistin, sie war Agitatorin für die Belange der Arbeiterinnen und Arbeiter, sie war Migrantin aus dem jüdischen Milieu in Russland. Sie ist mit nur 16 Jahren zusammen mit ihrer Schwester in die USA emigriert und gelangte dort auch wieder in ein Milieu von jüdischen Immigranten aus Deutschland und Russland. Ihre ersten Sprachen waren Russisch, Jiddisch und Deutsch – und da hat sie sich so durchgeschlagen und versucht, ein anderes Leben zu führen, als man es einer jungen Frau ihrer Herkunft zugedacht hatte. Das macht sie so lebendig: weil sie versucht hat, „nein“ zu sagen und eine andere Perspektive für sich zu finden.

Kann man das erklären oder hast Du eine These, warum ausgerechnet diese junge Frau aus eben diesem Milieu auf die Idee verfallen ist, ein anderes – eigenes – Leben zu leben?

Das ist eine interessante Frage und eine genaue Antwort habe ich auch nicht. Aber das geschieht natürlich immer wieder bei Menschen, die etwas Außergewöhnliches tun, dass man sich fragt: Warum gerade die? Offensichtlich hatte Emma so viel Energie und so viel Abenteuerlust auf eine solche Art von Leben. Sie wurde ja unmittelbar, nachdem sie mit 16/17 Jahren aus Russland in dieses jüdische Immigrantenmilieu in der Umgebung von New York kam, verheiratet. Sie hat dann ein Jahr diese Ehe probiert und durchgestanden und fand es so furchtbar, dass sie sich getrennt hat. Sie ist dann abgehauen nach New York City. Sie wurde von ihrer Familie sogar noch einmal zurückgeholt, hat sich aber mit ihrer ganzen Energie dagegen entschieden. Sie landete mit ihrer Nähmaschine bei einer Tante in New York City, die davon überhaupt nicht begeistert war, und dann hat sie Glück gehabt: Sie hatte nämliche die Adresse eines Mannes, den sie mal bei einem anarchistischen Vortrag gehört hatte. Den hat sie  gesucht und auch gefunden – eine abenteuerliche kleine Geschichte –, und der hat sie dann in dieses anarchistische Immigrantenmilieu gebracht. Dort fühlte sie sich sehr wohl und hat dort wenig später auch ihren Lebensgefährten Alexander Berkman getroffen. Die beiden haben sich zusammengetan, waren eine Zeitlang ein Paar und blieben lebenslang enge Freunde, und das ist ja schon mal doppelt so viel als allein.

Wann und wo bist du selbst Emma Goldmann begegnet?

Ich bin ihr Ende der 1970er Jahre begegnet, als ihre Schriften erstmals in deutscher Übersetzung erschienen. Ihre Autobiographie war ja 1931 auf Englisch herausgekommen und seit 1978 erschien sie nacheinander in drei Bänden, mit großer Verzögerung dazwischen, im anarchistischen Karin Kramer Verlag. Emma Goldman war in meinem Freundeskreis damals eine Legende, und wir warteten darauf, dass wir ihre Erinnerungen auf Deutsch lesen konnten. Bis dahin kannten wir nur ihren Namen und wussten, dass sie eine fulminante Persönlichkeit war.

2010 ist in eurem Verlag, der Edition Nautilus, dann eine überarbeitete deutsche Ausgabe der Biographie von Emma Goldman erschienen, sodass dich ihre Gestalt offenbar weiter begleitet hat und dein Interesse an ihr nicht nachließ?

Als ich Emmas Autobiografie das erste Mal las, war ich Ende Zwanzig. Die Einzelheiten habe ich zwischendurch wieder vergessen, aber in der antiautoritären Linken war Emma Goldmann eigentlich immer ein Thema. Nun war die Übersetzung aus den 70er Jahren relativ schlecht und die Bücher sahen auch nicht gut aus. Außerdem waren sie Anfang der 2000er Jahre vergriffen und der ursprüngliche Verlag mehr oder weniger pleite. Wir hatten zur selben Zeit einen Bestseller mit einem Kriminalroman, und da habe ich gedacht, jetzt könnten wir eine richtig schöne Ausgabe der Autobiographie von Emma Goldman machen. Und das haben wir dann auch getan.

Diese Ausgabe ist immer noch lieferbar. Allerdings drängt sich mir die Frage auf, ob für das anhaltende Interesse an Emma Goldman womöglich eher ein gewisser Exotismus ihrer Rollen als Frau, Jüdin, Russin und Anarchistin und eine daraus resultierende revolutionäre Romantik ausschlaggebend sind. Oder gibt es in ihrem Werk einen theoretischen und praktischen Gehalt, der über all die dazwischen liegende Zeit seine Aktualität behalten hat?

Die geschichtliche Situation, in der Emma agiert hat, war gigantisch: Da war am Ende des 19. Jahrhunderts in den USA eine riesige Arbeiterbewegung, die in brutalen Klassenauseinandersetzungen steckte, das war eine selbstbewusste Arbeiterklasse. Dann gab es im vorrevolutionären Russland revolutionäre Strömungen in Opposition gegen das alte, verrottete Regime des Zarenreichs. Die Beteiligten wurden entweder verbannt oder ins Gefängnis gesteckt. Dadurch kamen auch viele Russen, die auf der Flucht waren, in die USA, insbesondere nach New York. Emma hat diese Immigranten mit ihren Kreisen unterstützt. Sie hat auch versucht, die Streiks zu unterstützen, und kam sehr früh ins Gefängnis. Dadurch hat sie die Lage der Frauen im Frauenknast und das ganze Elend der Arbeiterfrauen kennengelernt. So wurde sie Feministin und arbeitete für das Recht auf den eigenen Körper, für das Recht überhaupt zu wissen, was Sexualität ist und was Empfängnis ist und wie man sich vor ungewollten Schwangerschaften schützen kann. Das waren alles ihre Themen. Bereits bei ihrem ersten Gefängnisaufenthalt wurde sie als Krankenhelferin ausgebildet, später erlernte sie den Beruf der Hebamme. Sie war oft im Gefängnis und hat jede Menge halsbrecherische Aktionen gemacht. Am Ende wurde sie 1920 im Zuge der Hetze gegen Kommunisten aus den USA nach Russland deportiert und musste mit 250 anderen russischen „Kommunisten“ in ihre alte Heimat zurückkehren. Sie lernte dort auch Lenin kennen, untersuchte die nachrevolutionäre Situation in der Sowjetunion und war erschüttert darüber, was sich dort abspielte. Es kam zum Zerwürfnis mit Lenin und zum Bruch mit der Kommunistischen Partei. Sie hat auch darüber ein Buch geschrieben. Aber auch im Westen war sie nach ihrer Kritik an der Sowjetunion absolut isoliert. Im Spanischen Bürgerkrieg trat sie nochmals auf, überwarf sich aber nach dem Regierungseintritt der anarchistischen Gewerkschaft auch mit den Anarchisten. Und dieses gigantische Leben liest man in ihrer Autobiographie nach. Aber trotzdem war es nicht das, was mich am meisten fasziniert hat: Was mich und die Frauen in meinem Umfeld damals vor allem anzog, war, wie sie über ihre Liebesgeschichten schreibt. Sie hatte nämlich etwa zwanzig Liebhaber und etliche Ehemänner – und eine dieser Affären ist ganz besonders spannend: Denn da drehte es sich um ein sogenanntes dubioses Subjekt. Dieser Mann war ein schillernder Typ, der viel für sie getan hat, aber bei den Genossen nicht sehr angesehen war. Und wie sie darüber spricht, über zig Seiten – diese Freiheit bei so einer politischen Frau, wo Intimität und politische Haltung so nah beieinander sind, das war für mich am eindrucksvollsten. Und das ist ja ein zeitloses Thema.

War sie diesbezüglich eigentlich zu ihrer Zeit eine Ausnahme oder gab es noch andere Frauen, die sich in vergleichbarer Weise engagierten und zugleich bemühten, über derart intime Gegenstände zu sprechen? Oder braucht es womöglich die historische Verzögerung von zwei oder drei Generationen, damit ein solches Vorbild Raum greifen kann und auch gesellschaftlich spürbar wird?

Das weiß ich gar nicht genau. Ich weiß nur, dass sie mit Blick auf die anarchistischen bzw. linksradikalen Publikationen und Autobiographien eine der ersten ist. Natürlich haben Frauen über sich und über ihren Körper geschrieben, auch schon im 19. Jahrhundert oder früher. Das waren eher Literatinnen, das geschah auf einer anderen Ebene. Aber mit so einem politischen Hintergrund die Spanne soweit aufzumachen – bis zum Feminismus, bis in den weiblichen Körper: Das konnte nur eine Frau, und unter den Politaktivisten dieser Zeit gab es nicht so viele Frauen. Und bei vergleichbaren Frauen wie beispielsweise Louise Michel oder Frauen aus der französischen Revolution oder der Pariser Commune kann ich mich nicht erinnern, dass sie mit so einer Freiheit über ihr eigenes Leben gesprochen haben.

Könnte man also sagen, dass in der Figur und im Auftritt von Emma Goldman eine Thematik aufbricht, die weit über ihre eigene Lebenszeit hinausreicht und uns heute vielleicht mehr denn je beschäftigt?

Ich konnte jedenfalls bei ihr jede Menge Themenfelder erkennen, mit denen wir uns heute auch noch beschäftigen: etwa die Aktionen einer Friedensbewegung gegen den Ersten Weltkrieg, der Aufruf zur Desertation und Kriegsdienstverweigerung, was ja verboten war, die Hilfestellung für eingezogene Männer. Das ist ja wieder ein aktuelles Thema: Wie positionierst du dich gegen Krieg? Und die Frage der Streikunterstützung. Und auch die Frage des – ich will jetzt nicht sagen: bewaffneten Kampfes –, aber die direkte Aktion ging ja für die Anarchisten damals bis zum Tyrannenmord. Und anhand eines ganz besonders fiesen Verwalters einer Stahlfabrik in der Gegend von Pittsburgh, der Killerbanden gegen streikende Arbeiter geschickt hat, haben die Genossen um Emma Goldman und Alexander Berkman damals diskutiert, ob es nicht eine ungeheure Befreiung wäre, den zu erschießen, und ob die Arbeiter nicht das Recht haben, ihn zu eliminieren. Dann hat sich Alexander Berkman dazu entschlossen, das zu tun. Das hat Emma nicht gutgeheißen, aber sie war trotzdem solidarisch mit ihm. Sie hat z.B. versucht, seine Ausrüstung mit zu finanzieren, indem sie sich als Prostituierte verkauft hat, d.h. sie ging in ihrer Solidarität sehr weit. Und genau diese Fragen haben wir uns damals in den 1970er Jahren auch gestellt. Wir haben debattiert: Was ist Prostitution? Können wir Prostitution für uns nutzen? Kann man damit Geld für die Bewegung verdienen? Darf man jemanden umbringen, der ein echter Fiesling, ein verbrecherischer Ausbeuter, ein ehemaliger Nazischerge ist? Darf man das und was bedeutet das? Emma war ja schon mit 13, noch in Russland, Textilarbeiterin, und war auch in Amerika zunächst als Textilarbeiterin tätig, und sie wusste eins: Ich will mein Leben nicht als Textilarbeiterin verbringen – aber wie mache ich das? Was kann ich tun? Und die Clique von jungen Leuten um Alexander Berkman und sie haben dann z.B. einen Eis-Salon eröffnet. Die haben also eine Art Boheme-Leben versucht, um sich anders zu finanzieren – und nicht nur sich selber zu finanzieren, sondern auch die anarchistische Propaganda, eine kleine Zeitschrift, Flugblätter usw. Also: Was tut man, wenn man gegen die Welt ist, so wie sie einen umgibt, wenn man keine Chancen hat, ein Leben in Freiheit zu führen, wenn man dem ökonomischen Druck, dem gesellschaftlichen Druck ausgesetzt ist, wenn man in einer gewalttätigen Gesellschaft lebt? Das alles sind Fragen, die bleiben.

Nun leuchtet mir einerseits unmittelbar ein, dass es eine Affinität zwischen dem Wirken von Emma Goldmann und den emanzipatorischen Bewegungen der Endsechziger und Siebziger Jahre gibt. Aber trifft das auch auf die Gegenwart zu? Bzw. wenn man es auf die Spanne deines, unserer Leben bezieht: Was ist davon übriggeblieben?

Das ist eine interessante Frage. Interessant wäre auch zu fragen, wie Emma Goldman heute auf junge Menschen wirkt. Ich habe ja etliche Lesungen mit dem Buch gemacht, auch vor jungen Hörerinnen. Die waren eigentliche immer sehr beeindruckt von der Fülle der Themen und geschichtlichen Erlebnisse, die darin stecken und widergespiegelt werden. Heute geht alles, so scheint mir, auf einer bestimmten Ebene schneller und automatischer, mit einer anderen Distanz. Aber ich kann das letztlich gar nicht beurteilen, da ich ja selbst einer anderen Generation angehöre als der, die sich jetzt damit auseinandersetzen könnte. Die Arbeiterklasse als diejenige, die eine andere Welt schaffen wollte, sehe ich heute auch nicht mehr. Das war damals noch eine spürbare Klasse, die sich in den Fabriken traf, die sich in ihren Kneipen traf, bei ihren Versammlungen, bei den Streiks. Da traf sich die Klasse – getrennt von der anderen, der herrschenden Klasse. Das ist natürlich heute eine andere Welt. Und dieses Selbstbewusstsein einer Klasse, das Selbstbewusstsein von Menschen, die wissen, dass sie eigentlich die Gesellschaft machen, dass sie alles produzieren – das hat sich natürlich verändert. Man muss auch sagen, dass Emma in den USA quasi auf der Seite der Negation gearbeitet hat. Das waren Streiks, das waren Abwehrkämpfe gegen die Bosse. Dann kam sie in die Sowjetunion, wo die Revolution stattgefunden hatte. Da hatte eine neue herrschende Klasse, die Bolschewiki, die Macht übernommen. Und sie sah, was nach der Revolution passiert ist: wie sich eine neue herrschende Klasse auf den Umsturz der gesellschaftlichen Verhältnisse draufgesetzt hat. Und dann hat sie noch Spanien erlebt, 1936/37, die spanische Revolution und den Bürgerkrieg. Und da hat sie wieder gesehen wie eine Klasse, die spanischen Landarbeiter und Arbeiter, Männer und Frauen – ein sehr ländlich geprägtes Proletariat –  gegen den Putsch der Faschisten die Macht ergriffen hat und sofort wusste, was sie zu tun hatte. Sehr spannend, dass diese Selbstbewusstheit der Klasse unmittelbar vorhanden war. Die konnten sagen: Wir organisieren unsere Welt, wie wir sie wollen. Die Bäckereien werden kollektiviert. Die Fabriken werden durch die Arbeiter kontrolliert. Und unsere stärksten Kräfte schicken wir nicht in die Armee, sondern in selbstorganisierte Milizen an die Front, um zu verhindern, dass Franco die Republik übernimmt. Ob so etwas heute noch so geschehen könnte, habe ich ehrlich gesagt keine Ahnung.

Wobei man auch fragen könnte, ob das nicht eher die Ausnahme war, was da in Spanien ablief, zumal es parallel zur Etablierung des Faschismus in einer ganzen Reihe von europäischen Ländern stattfand, und dazu kamen dann noch die kommunistischen Brigaden.

Die Internationalen Brigaden und die berühmte russische Militärhilfe waren definitiv ein stalinistisches Kontrollinstrument über die Freiheit, die da plötzlich praktiziert wurde. Die sowjetischen Kader haben alles versucht, um diese selbstbewusste Klasse zu kontrollieren. Die spanischen Landarbeiter waren ein ganz anderer Schlag, und die waren mehrheitlich bei den Anarchisten organisiert. Dass die Internationalen Brigaden für die Spanische Revolution hilfreich gewesen wären, ist ein großer Mythos. Aber auch die Anarchisten haben sich – mit den russischen Bündnispartnern und mit der republikanisch-bürgerlichen nationalen antifaschistischen Front – in diese Kontrollfunktion begeben und versucht, die autonome Klasse einzugrenzen. Aus heutiger Sicht sind da auf Seiten der Revolutionäre strategische und taktische Fehler gemacht worden, aus denen man lernen könnte. Auf jeden Fall kann man daraus lernen, der Macht des Staates und seiner Institutionen immer zu misstrauen und auf die direkte Entscheidung der Klasse zu hören. Ob und wie das heute gehen kann, weiß ich nicht, denn die Klasse als solche ist ja nicht mehr sichtbar. Sie ist nicht mehr formiert, sondern im Wesentlichen atomisiert und digitalisiert.

Mein eigener Eindruck hinsichtlich der Gegenwart ist da zwiespältig: Einerseits könnte man sagen, dass die Ideen eines mündigen Subjekts und das Selbstbewusstsein unterdrückter Klassen nach wie vor lebendig sind, vielleicht sogar angesichts totalitärer Tendenzen der repräsentativen Demokratie wieder lebendig werden. Andererseits haben wir es mit einem unglaublich mächtigen und zunehmend  autoritären Staat zu tun, der sich noch dazu mit neuen Überwachungstechnologien hochrüstet und genau dieses selbstbewusste Subjekt als seinen Feind im Visier hat. Wie siehst du das?

Mir scheint, dass der Staat und die Herrschaft schon immer so stark waren, wie sie sein konnten, in welcher Form auch immer. Was mir mehr zu denken gibt, ist die Auflösung des selbstbewussten Subjekts, das sich nicht nur seiner persönlich-subjektiven Stärke, sondern auch einer kollektiven Stärke bewusst ist. Ich hoffe sehr, dass die Vision und der ungeheure Erfahrungsreichtum, den ja nicht nur Emma Goldman hatte, sondern die Volksbewegungen seit der Pariser Commune – dass das noch irgendwo existiert. Ich hoffe nicht, dass man auch das digitalisieren und zuletzt in den Papierkorb werfen kann, sondern dass das in den Menschen abgelagert ist und sich erhält. Nun sieht es in Deutschland mit dem Geist von Emma Goldmann aktuell besonders schwierig aus. Aber international ist das anders. Wenn man z.B. an die iranischen Frauen denkt oder die Black Lives Matter-Bewegung, wenn man an die Gelbwesten und die landwirtschaftlich geprägten Proteste gegen das Agrobusiness in Frankreich denkt, da sieht das schon anders aus. Da gibt es auch eine internationale Vernetzung und auch diese Unbedingtheit, die Emma Goldman hatte, und diese persönliche Wut. International sehe ich bei jeder dieser Bewegungen, dass es den Punkt gibt: Bis hierhin und keinen Zentimeter weiter! Diese Bewegungen entwickeln sich auch über nationale Grenzen hinaus – sie demonstrieren nicht mehr unter Fahnen, sondern unter neuen Zeichen. Auch Emmas Ansatz war, schon allein weil sie Migrantin war und in einem internationalen Milieu in den USA gelebt hat, nie national. Die Verteidigung der Nation wegzulassen und zu sagen, es geht um Menschenrechte, es geht um den Erhalt dieser Erde, es geht um ein Zusammenleben zwischen Pflanzen, Tieren und Menschen, und zwar ohne jedes nationale Konzept – darum geht es doch. Immerhin gab es in Deutschland diese mutige Bewegung der Waldbesetzung und Baumhäuser in Lützerath gegen die fossile Industrie – da haben diese jungen Menschen durchaus mit ihrem eigenen Körper und ihrer kompletten Subjektivität dagestanden. Und ich denke für Menschen, die auf diese Weise einen Weg suchen, wie sie nicht nur ihr Überleben, sondern auch ihr Leben bestimmen und retten können, für die wäre Emma Goldmans Erfahrungsschatz eine Bereicherung.

Wie kommt es, dass du dich gerade aktuell wieder mit Emma Goldman beschäftigst und einen Essay über das Thema verfasst hast?

Ich war im letzten Sommer zu einer Konferenz von linksradikalen Menschen, jungen Leuten, zum großen Teil Studenten, in Chemnitz eingeladen, die seit mehreren Jahren jedes Jahr selbstorganisiert ein Thema bearbeiten. Und da war das Thema jetzt Anarchismus, und ich war mit meiner Emma-Goldman-Lesung für das Kulturprogramm am Abend eingeladen. Dazu wird ein Reader gemacht, und in diesem Zusammenhang wurde ich gebeten, das Thema noch einmal zu verschriftlichen.

Und hat sich dein Fokus auf Emma Goldman und ihre Themen in der Zwischenzeit in irgendeiner Form verschoben?

Das passiert sowieso immer und ist auch mit Emma Goldman so gewesen. Während mich am Anfang diese Liebesgeschichte so beeindruckt hat, war es jetzt vielleicht ihre Einsamkeit am Ende, als sie aus der Sowjetunion zurückkam und niemand sie mehr hören wollte. Sie war es ja gewohnt, vor Tausenden von Leuten zu reden, und jetzt waren da gerade mal dreißig. Sie wurde weiterhin eingeladen, auch um sie finanziell zu unterstützen, aber es kam kaum noch jemand. Sie war nach ihrer Flucht aus Russland staatenlos, hatte keinen Pass, irrte in Europa umher. In Amerika hatte sie Einreiseverbot und konnte nicht dorthin zurück.

Könnte man Emma Goldmanns Botschaft auch und vor allem dahingehend verstehen, dass revolutionäre Praxis und lebendige Existenz zusammenhängen, dass es dabei nicht zuletzt um die Befreiung des Körpers, um Liebe und Gefühle, um die Lust am Lebendigsein geht?

Unbedingt. Emma war noch nicht mal eine Theoretikerin im strengen Sinn des intellektuellen Konzepts. Ihre Reden und Thesen kamen immer aus der direkten Anschauung. Sie war sicher keine einfache Frau, aber sie war sehr leidenschaftlich. Und so viel ist klar: Das anarchistische Konzept ist kein „vernünftiges Konzept“. Und das Konzept des Imaginären, das nach dem Zweiten Weltkrieg erneut  in die Debatte kam, also das Konzept der großen, unzerstörbaren Sehnsucht nach einem ganzheitlichen Leben, nach einem All-Eins-Sein, was nichts mit der Welt, wie sie ist, zu tun hat – das hat Emma vielleicht so nicht sagen können, aber sie hat es trotzdem auf eine Art verkörpert. Und sicher ist dieses Imaginäre auch das, an das die Herrschaftstechniken sich derzeit bemühen heranzukommen, es zu verflachen und zu nivellieren, es zu kapitalisieren, zu kommodifizieren. Das Imginäre, die Lust an der Umgestaltung des Lebens zu erhalten, dazu hat Emma Goldman in ihrem Leben viel beigetragen.

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Hanna Mittelstädt, 1951 in Hamburg geboren, gründete 1973 zusammen mit ihrem Lebenspartner Lutz Schulenburg und dem französischen Dichter und Aktivisten Pierre Gallisaires die Edition Nautilus. Die Geschichte des Verlages vor dem Hintergrund der politischen Entwicklung hat sie in ihrer im letzten Jahr erschienenen literarischen Chronik unter dem Titel Arbeitet nie! Die Erfindung eines anderen Lebens nachgezeichnet. Im Konkursbuch Verlag erschien 2021 ihr Roman Blu – Lovestory. Ihr Essay Emma Goldman – ein widerständiges Leben wird voraussichtlich ab Juli unter <https://kantine-festival.org/#broschuere> verfügbar sein. Emma Goldmans Autobiographie Gelebtes Leben (927 Seiten, 32 €) ist 2010 in der Edition Nautilus erschienen und kann im Buchhandel bestellt werden.