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Bargespräch Blog

#1: WONIN über von der Leine gelassene Literatur, den Rausch des Reimens und den verborgenen Sinn hinter den Wörtern

Dahlmanns Bazar: Prinzipiell verkaufen sich Gedichtbände heutzutage leider ziemlich schlecht. Trotzdem gibt es in unserer Buchhandlung einen Longseller aus genau dieser literarischen Gattung: Das sind die Schüttelreime von WONIN, mit bürgerlichem Namen Klaus Wondratschek, der heute zum Bargespräch für unseren Blog vor Ort ist. Um aus dem Phänomen die erste Frage zu machen: Warum stoßen ausgerechnet Schüttelreime beim Publikum auf ein derartiges Interesse, und warum gehörst ausgerechnet du zu den heute eher seltenen Vertretern dieses poetischen Genres?

WONIN: Zur Frage, warum sie laufen, würde ich aufgrund meiner langjährigen Markterfahrung behaupten: weil sie, auch wenn sie an sich keine Sau kaufen würde, einfach gut sind und weil sie von Kerstin Baarmann (KEBA) noch dazu ansprechend und mit Können typografisch umgesetzt wurden. Ich stehe damit allwöchentlich auf zwei Märkten, und auch wenn Tage mit Nullumsatz dabei sind … –

Nur zum Verständnis: Du verkaufst deine Gedichtbände auf tatsächlichen Märkten?

… auf echten Märkten wie z.B in Gingst/Westrügen, einem Kaff mit 1200 Einwohnern, wo samstags Grüner Markt ist mit einem Bio-Gemüsestand und Räucherfisch, Keramik, Seife, Flechtwaren usw.. Dort stehe ich mit Schüttelreimen, d.h., ich sitze hinter meinem Stand, auf dem meine Produkte ausgebreitet sind, und darüber hängen Schnüre, an denen vermittels Wäscheklammern ausgedruckte Schüttelreime auf laminiertem A4-Papier hängen. Das sind dann Knaller wie: „Auf sein Weib gibt der Macker acht, bis er sich dann vom Acker macht.“ Und dann bleiben die Hausfrauen stehen und lachen und stoßen sich gegenseitig an.

Das erinnert mich an die brasilianische Tradition der sogenannten „Literatura de Cordel“, d.h. „Literatur an der Wäscheleine“ – eine volkstümliche und höchst eigenwillige Literaturform aus dem Nordosten Brasiliens, in der indigene, europäische und afrikanische Einflüsse verschmolzen. Die darin abgedruckten Texte wurden wie deine Schüttelreime in kleinen Heftchen gedruckt, zumeist mit einem Holzschnitt als Titelblatt, und dann aufgehängt an einer Wäscheleine an den Verkaufsstellen präsentiert. Sie waren in den ländlichen Gegenden Brasiliens über lange Zeit das einzige Massenmedium, berichteten in Versform von regionalen Legenden und historischen Ereignissen, über Heilige, Politiker und andere Personen von Interesse und konnten sich tatsächlich noch bis in die 1960er und 1970er Jahre neben den neuen Medien behaupten.

„Literatur von der Leine“ (nicht „von der Leyen“!) – das muss ich mir merken. Das wäre erstens ein Stabreim und zweitens mehrdeutig, weil man sie sowohl von der Leine kaufen als auch „von der Leine lassen“ kann. Was ich eigentlich sagen wollte: Man stelle sich vor, jemand steht mit Haikus auf dem Marktplatz – das kann man vergessen. Und mit Schüttelreimen kann man es rein ökonomisch betrachtet auch vergessen. Aber hier handelt es sich um eine Art Zwischenbereich zwischen Hochliteratur und Volksmund. Es gibt sehr bekannte Schüttelreime wie: „Was wackelt in der Lodenhose, ist da nicht wohl ein Hoden lose?“. Den hört man beim Volleyball in der Umkleidekabine, wenn jemand das Wort „Schüttelreim“ erwähnt. Wir sind ja mit allen möglichen Zweizeilern aufgewachsen, die bestimmte Lebensweisheiten und Redewendungen festhalten. Und der Schüttelreim ist eine Form davon, die einen besonderen Reiz hat, weil sie mit dieser scheinbaren Zufälligkeit der Sprache arbeitet.

Handelt es sich hier um eine spezifisch deutsche Reimform, oder sind Schüttelreime auch in anderen Sprachen verbreitet?

In anderen Sprachen ist das eher schwierig. Im Englischen gibt es „Incomplete“ (wie der Footballfan sagen würde, also „Unvollendete“. Die machen dort den sogenannten „Spoonerism“ – das ist das „Gegenstück“. Ein bekanntes deutsches Beispiel aus dem Wendland wäre: „Was lange gärt, wird endlich Wut“, von: „Was lange währt, wird endlich gut.“ Das geht auf das Prinzip des Schüttelreims zurück, doch sagt man hier nur die zweite, die „Gegenzeile“. „Spoonerism“ heißt diese Form deshalb, weil sie auf einen englischen Dekan aus den 1920er Jahren zurückgeht, der den Namen Spooner trug und dafür berüchtigt war, dass er sich bei öffentlichen Ansprachen oft versprochen hat, wobei man nicht genau weiß, ob das Absicht war oder nicht. Der hat so Dinger rausgehauen wie: „The Lord is a shoving leopard“ („Der Herr ist ein schubsender Leopard“), wo es eigentlich heißen sollte: „loving shepherd“ („liebevoller Hirte“). Das hat also etwas mit Rhetorik und mit Leuten zu tun, die sich mit Sprache beschäftigen. Die Form ist dort also mindestens auch in herrschenden Kreisen tradiert. Im Französischen gibt es das auch, da heißt es „Contrepèterie“.

Ich erinnere mich, dass Schüttelreime auch in meiner Kindheit in der DDR – also in den 1970er Jahren – eine gewisse Konjunktur hatten und zuweilen sogar Leute damit im Fernsehen auftraten.

Als ich Anfang der 1990er Jahre in die ehemalige DDR gezogen bin, gab es in Berlin die Erich-Mühsam-Straße (die es so weit ich weiß auch heute noch gibt), und auch Erich Mühsam war ein bekannter Schüttelreimer. Ich finde, andere Sachen konnte er besser – ich kenne nur wenige wirklich gute Schüttelreime von ihm und er hat sie seltsamerweise auch nicht im anarchistischen Tagesgeschäft eingesetzt.

Bist du selbst über Mühsam auf die Technik des Schüttelreims gestoßen?

Nein. Das war in meinem Fall eine Familienkultur an Sprachwitz bzw. -spielerei. Es gibt eine spezielle Variante von Schüttelreimen, den sogenannten „Vierer“. Beim normalen Schüttelreim, dem „Zweier“, werden die Anfangskonsonanten der letzten beiden betonten Silben einer Zeile vertauscht. Einen „Vierer“ erhält man, indem man auch die Vokale der betreffenden Silben vertauscht, also den Klang verändert. Ein Beispiel dafür ist ein Schüttelreim, den ich von meinem Vater habe: „Hast du gesehen, wohin der Schuft lief, der drüben am Haus den Lift schuf, der dort jetzt hängt in der Luft schief? Du erkennst ihn, er hat geschifft luv.“

Wir haben jetzt also auch die Seemannssprache berührt und zuvor den populären Sprachwitz sowie bestimmte Versprecher, aus denen Schüttelreime hervorgegangen sind. Andererseits wirken diese doch in der Regel recht ausgefeilt, nicht als ob sie primär aus spontanen Versprechern erwachsen sind.

Ich vermute, dass das, was wir als „Volksmund“ kennen, immer „ausgefeilt“ ist, weil es durch Millionen von Hirnen gegangen und am Schluss eine stromlinienförmige und knackige Version davon übriggeblieben ist. Das wäre zumindest meine These.

Und wie verhält es sich bei dir? Fallen dir deine Schüttelreime spontan ein oder sind sie Ergebnis eines tage- oder wochenlangen Nachdenkens?

Beides. Einerseits stoße ich im Gespräch auf etwas und merke, dass es sich schütteln lässt. Das Schöne ist, dass es Millionen möglicher Kombinationen dafür gibt. Anfangs habe ich gedacht, angesichts der langen Tradition von Schüttelreimen sei schon alles gesagt. Allerdings betrifft der Schüttelreim ja nur den Schluss einer Zeile, und alles, was davor steht, lässt sich frei variieren. Ein Beispiel aus dem Volksmund: „Ich geh jetzt in den Birkenwald, denn meine Pillen wirken bald.“ Ich habe keine Ahnung, was genau damit gemeint ist, aber mit Sicherheit ist es irgendwas unter der Gürtellinie. Ich fand diesen Reim flach, aber den „Birkenwald“ darin Klasse. Es ließe sich z.B. auch sagen: „Willst Großes Du bewirken bald, dann pflanze einen Birkenwald.“ Das hat schon mehr Tiefgang. Der Sinn ist also nicht durch die geschüttelten Silben festgelegt, sondern im vorderen Teil gibt es unzählige Möglichkeiten, dies oder etwas Anderes zu schreiben. Im Grunde könnte ich alle klassischen Schüttelreime durchgehen und neu schreiben, und man würde sie unter Umständen nicht einmal wiedererkennen. Das heißt: Ich höre irgendeinen Satz, es macht „bing“, und ich mache mir eine Notiz davon. Andererseits hat sich ein Mathematiker damit beschäftigt, ob die Zahl der möglichen Schüttelreime endlich ist, und der ist zu dem Ergebnis gelangt, dass es mehr mögliche Schüttelreime gibt als einfache Reime. Das liegt daran, dass Schüttelreime Doppelreime sind, aber das führt hier zu weit, ich erkläre das in meinen neuen Heften kurz. Das, was ich aus einem Schüttelreim, der mich beschäftigt, zuletzt mache, kann manchmal zwei Sekunden dauern, aber auch zwei Jahre. Und außerdem mache ich Gedichte aus Schüttelreimen, wo u.U. noch ein inhaltlicher Punkt übrig bleibt, den ich sagen will – und da kann es passieren, dass ich jahrelang nach einem dafür passenden Schüttelreim suche. Es ist nämlich unendlich viel komplizierter, einen Schüttelreim für etwas zu suchen, was man sagen will, als einer Kombination von Silben, die sich schütteln lässt, einen Sinn zu geben.

Könnte man vielleicht sagen, dass in der Sprache selbst eine Art von Verführungskraft liegt, die unser Denkvermögen herausfordert und anstiftet, hinter allen möglichen klanglichen Zufällen einen verborgen Sinn zu vermuten und zu suchen?

Unbedingt! Das erste ist der Reim an sich: Der Reim hat etwas mit Symmetrie zu tun und enthält damit die Andeutung eines Tauschverhältnisses, das ist der ökonomische Aspekt. Also: Ich gebe, damit du mir etwas gibst. Das zweite ist der Überfluss: Sprache ist Instrument, und mit einem Instrument kann man einerseits arbeiten, man kann aber auch mit ihm spielen. Und das Spielen hat mit Rausch zu tun: Mich berauscht es, wenn ich einen geilen Schüttelreim hinkriege. Ganz unabhängig vom Selbstwertgefühl und vom Beifall der Anderen, den man vielleicht dafür bekommt. Ich war schon im Knast und habe keine Angst davor: Sperr mich irgendwo weg und ich schreibe Gedichte! Das Dritte ist die Frage nach dem Sinn: Der Reim als solcher ist ein Phänomen ohne Sinn: Es liegt kein Sinn darin, dass zwei Wörter sich reimen, sie tun es einfach. Aber was für ein Sinn liegt dahinter oder ist darin verborgen oder angelegt? Wenn ich auf „schon“ „Thron“ reime, ergibt das völlig andere Assoziationen als der Reim auf „Lohn“. Oder ich reime „Thron“ auf „Lohn“, und bei jeder dieser Varianten fällt mir sofort ein Märchen ein, was ich dazu schreiben könnte. Und jetzt stell dir vor, dass es sich nicht nur um einen einfachen Reim, sondern um einen Doppelreim handelt – ein kompliziertes Wesen, für dessen Handhabung es eine mathematische Vorschrift gibt. Und dann findest du etwas, was dieser Vorschrift genügt und trotzdem einen ganz neuen Vorstellungsraum eröffnet, das ist doch der Hammer!

Nun bist du in jüngerer Zeit neben den Publikationen deiner Schüttelreime durch ein aus einer ganzen Serie von Schüttelreimen bestehendes Langgedicht bzw. Poem zum Zeitgeschehen hervorgetreten, das im Untertitel „eine Art Coronik“ heißt. Was war der Anlass dafür bzw. wie bist du auf die Idee dazu gekommen?

Erst einmal: Es ist leider nicht fertig. Aber gekommen ist es daher, dass ich irgendwann bemerkt habe: Wenn ich mehrere Schüttelreime aneinanderhänge, kann ich ein Gedicht daraus machen. Ein Schüttelreim hat meistens einen durch beide Zeilen hindurchlaufenden Faden. Das kann ein Widerspruch sein, da wird es lustig, oder irgendein anderer Sinnzusammenhang. Man kann dann – wie bei anderen Gedichten auch – diese Schüttelreime aneinanderhängen, und es entsteht ein weiterer Sinnzusammenhang. Ich habe nun angefangen, solche Gedichte von ein oder zwei Seiten zu machen, über Marx und Mehrwert z.B. oder „Gotteslob und Teufelswerk“, d.h. Glauben und Kirche, oder Liebe und Paarbeziehungen usw. Soweit war ich, als diese Pandemienummer kam, die bis heute sehr seltsam ist. Und das hat mich wütend gemacht und mich verwirrt und hat mir auch Angst gemacht. Man kennt das ja, wenn jemand im privaten Bereich gemobbt wird, aber wenn dies in staatlich organisierter Form geschieht und begleitet von vermeintlich „freien“ privaten Medien! Ich habe mich damit viel beschäftigt, viele Artikel dazu gelesen und bin zu der Schlussfolgerung gekommen: Wir werden hier völlig verarscht, es ist eine böse Hetze, eine PsyOp oder was auch immer. Und da bleibt nichts anderes übrig, als dagegen anzuschreiben, schon allein um mich selbst durch Hohn und Spott davon zu befreien. Es handelte sich sozusagen um eine Selbstermächtigung. Inzwischen habe ich mehr als 300 Zeilen. Und je länger so ein Text wird, umso mehr stellt sich die Frage nach dem Spannungsbogen. Da musst du über retardierende Momente, Katharsis usw. nachdenken.

Ein weiteres neues Format aus deiner Produktion, aus dem eine ganze Heftreihe werden soll, heißt „Suddelbuch“. Der Titel ruft die Erinnerung an Georg Christoph Lichtenbergs „Sudelbücher“ hervor – worum geht es?

Tatsächlich ist der Name an Lichtenberg angelehnt, aber mit „Sudelbuch“ gelingt kein handwerklich korrekter Schüttelreim. Wenn man hingegen „Suddelbuch“ sagt, was laut Duden zulässig ist, kommt man auf etwas, was der Trinker kennt: „Lies du in meinem Suddelbuch, während ich uns noch ‘ne Buddel such!“ Die Antwort ist einfach: Ich schreibe dauernd, habe sehr viel Material und sitze auf einem Publikationsstau, weil meine Graphiker keine Zeit haben. Und da habe ich gedacht: OK, dann mache ich es eben selbst, was für mich heißt, dass ich ein Heft mache und verschiedene Leute – Freunde, Künstler, Kollegen, Kolleginnen – frage, ob sie etwas dazu beitragen können. Wenn also jemand Lust hat, Texte von mir zu illustrieren, ich bin offen, einfach Laut geben.

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Der Autor WONIN, geboren 1959 in Würzburg, lebt seit zwanzig Jahren auf Rügen. Seine Bücher sind in Dahlmanns Bazar in Sassnitz, in einigen weiteren Läden auf Rügen und ab Juni mittwochs auf dem „Rügen kreativ“-Markt im Hafen von Lauterbauch sowie samstags auf dem Grünen Markt im Museumshof Gingst erhältlich, außerdem auf der Website wonin.de. Soeben erschienen ist die zweite Nummer der von WONIN herausgegebenen „Suddelhefte“.